Wörter mit vernebeltem Verweis, mit einem Bezeichneten, das mitunter in sein Gegenteil verkehrt ist, waren an dieser Stelle bereits Thema; dies gleich in Reihe: der humanitäre Einsatz oder die Stabilisierungsmission für den Krieg, das Hilfspaket für die Kreditknechtschaft, das Taschengeld von Staates Gnaden für die rechtmäßige Geldleistung an den Flüchtling. Das Phänomen hat seine Breite – historisch und innerhalb des politischen Spektrums. Anhand weiterer Beispiele soll diese punktuell umrissen werden.

Der Zweck der vorsätzlich falschen Etikettierung hat eine solche Breite nicht: Es geht eigentlich immer darum, die Wirklichkeit zu verschleiern; ihre Ungerechtigkeiten und Ungeheuerlichkeiten, die man herbeigeführt oder ausgenutzt hat, sollen verblendet werden. Die Sprache bleibt vergiftet zurück, die öffentliche Debatte wird verunmöglicht; die bestehenden Verhältnisse sollen zementiert, Zukunft verhindert werden.

Verblendung im (und durch den) Kapitalismus

Der sprachliche Etikettenschwindel war feudal nur vereinzelt vonnöten; Fürst und König konnten noch ganz offen und mit Überzeugung die Knute in der Hand führen (und sie nutzen!) – mit Gottesgnadentum und kirchlicher Autorität als Legitimation. Erst der Freiheitsruf der bürgerlichen Revolutionen, gepaart mit dem Erstarken eines neuen Wirtschaftssystems – also die Überführung der aristokratischen Klassengesellschaft in die kapitalistische – machte Kaschierungen notwendig. Die bürgerlichen Freiheiten, so unzweifelhaft sie ein wichtiger Fortschritt waren, sollten auch darüber hinwegtäuschen, dass Freiheit eben nicht die Befreiung von Entfremdung und Verdinglichung im Arbeitsprozess meinte, auch nicht die Befreiung von stetig wachsender Kapitalherrschaft, die Staaten vor sich hertreibt und die Allgemeinheit für ihre Verfehlungen zahlen lässt – letzteres im wörtlichen Sinne. Wo der Kapitalismus roh wirken kann, haben die Menschen oftmals nur mehr die Freiheit, vor die Hunde zu gehen, wenn sie ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können. Dies war im 18. Jahrhundert nicht anders als heute.

Dass auch Gleichheit und Brüderlichkeit am Inhalt des Portemonnaies gemessen werden, zeigen derzeit wieder ertrunkene und in südeuropäischen Lagern dahinvegetierende Flüchtlinge. Manch ein Politiker mag gegen Schwarze hetzen, ein anderer gegen Muslime, die größte Verachtung jedoch wird gegenüber den Armen an den Tag gelegt – gerade auch von Seiten der Wirtschaft. Ein aktuelles Beispiel unter vielen: Ein Bericht von Germanwatch und Misereor belegt, dass deutsche Energieunternehmen bei Geschäften in Entwicklungsländern oftmals die Menschenrechte missachten; da werden indigene Bevölkerungen gegen ihren Willen umgesiedelt, auf Einschüchterung und Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele gesetzt und Wasser für Industrieanlagen genutzt, während ein paar Kilometer weiter Menschen Durst leiden. Die Empörung bleibt ebenso aus wie das Drängen auf Gesetze, die derartiges Handeln verhindern könnten. Eben deshalb bekommen die großen Worte einen bitteren Beigeschmack.

Doch so fern, auf andere Kontinente, muss der Blick gar nicht schweifen, er kann schon in den Vorstädten westlicher Großstädte Halt machen, um zu erkennen, wie die ‚Wertegemeinschaft‘ ihre Werte verrät: So sind etwa Egalité und Fraternité nur den wenigsten Einwohnern der Banlieues je begegnet, ebenso wie „justice for all“ in den Schwarzen- und Latinoghettos Amerikas kaum Geltung besitzt. Auch hier wird Menschenrecht gebrochen, um das Recht aufs Eigentum umso vehementer verteidigen zu können – gegen das selbsterzeugte Elend. Demokratie im Kapitalismus, so scheint es, will den Gesetzestext, insbesondere die ersten Paragraphen der Verfassungen und des Völkerrechts, als warme Worte für Sonntagsreden, als Dekoration fürs gute Geschäft, zugleich als Quietiv für all diejenigen, die (noch) Unbehagen spüren, nicht jedoch als Maßstab, der an die Entscheidungen von Politik und Wirtschaft angelegt werden könnte. Wichtig ist, dass es hierbei nicht um einzelne Ausreißer geht, nicht ums Ausbessern auf dem Weg zur Verwirklichung des Ideals, sondern um systemische Probleme, die tiefe Wurzeln im ökonomischen Fundament der Gesellschaft haben. Wenn in dieser Hinsicht die offensten Worte ausgerechnet aus der Kurie (wo die hausinterne Frohe Botschaft durch das eigene Verhalten oft genug konterkariert wird) zu vernehmen sind, muss es wirklich schlimm ums vermeintliche Wertefundament und seine Verteidigung stehen: „Diese Wirtschaft tötet“, schrieb der Papst, treffend wie bündig, in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“.

Nicht nur der Hagel großer Worte (Freiheit, Gleichheit etc.) dient im Kapitalismus der Verschleierung, auch im Kleinen lässt sich beobachten, wie ihr zugearbeitet wird. Im Vorwort zur dritten Auflage des Kapitals etwa gibt Friedrich Engels den Hinweis zum widersinnigen Gebrauch der Wörter „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ – er hat sich bis heute gehalten: Wir bezeichnen denjenigen als Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft verkauft, der also eigentlich der Arbeitgeber ist; dieses Etikett jedoch ist paradoxerweise für denjenigen reserviert, der Arbeitskraft einkauft, folglich also eigentlich der Arbeitnehmer ist. So wird aus dem Kapitalisten der gütig Gebende, aus Arbeitern und Angestellten dankend Nehmende, wo tatsächlich das Gegenteil der Fall ist, zudem jeglicher Dank und alle Güte diesem Tauschgeschäft schon immer fremd waren.

Ähnlich verhält es sich mit der Paraphrasierung der Unternehmensbelegschaft als Familie, mit dem Chef als treusorgendem Patriarchen an der Spitze. Auch hier wird sprachlich Nähe und Vertrautheit (samt Dank und Güte) suggeriert, wo tatsächlich kühl die Zahlen regieren. Es wird Gefühligkeit in ein Verhältnis eingebracht, das selten mehr als ein nüchternes Geschäft ist. Dem Unternehmenspatriarchen ist seine ‚Familie‘ exakt so teuer, wie er für ihre Arbeitskraft an Lohn entrichten muss.

Die Totalwerdung der Täuschung

An dieser Stelle sind bereits die Feinheiten des Etikettenschwindels angesprochen; es muss noch einmal zu seinen gröberen Auswüchsen zurückgekehrt werden. Kann die Täuschung in der Demokratie noch eine halbe sein, das Ideal zumindest teilweise erfüllt (während zeitgleich mit ihm Missbrauch betrieben wird), muss die Irreführung in Diktaturen total werden. So war etwa der Kommunismus weder real noch existent, wo exakt dies – im tautologischen Überschwang – von ihm behauptet wurde. Folgt man Engels, so sollte dieser mit der Herrschaft über Menschen brechen; der Staat sollte sich nur mehr der Verteilung von Gütern widmen. Tatsache war, je weniger es zu verteilen gab, desto ausgreifender und brutaler wurde die Herrschaft über die Menschen. Oligarchische Willkür stand anstelle der Herrschaft aller in wahrer Demokratie. Dass die zementierte Ideologie noch mit dem Namen des Philosophen geschmückt wurde, der sich gerade die Erklärung (historischer) Wandlungen zur Aufgabe gemacht hatte, setzte der sowjetischen Verhunzung die Krone auf. Eingeräumt werden muss, dass die Bezeichnung „Marxismus“ bereits mit einem Geburtsfehler in Sachen Etikettenschwindel belastet ist. Wolfgang Fritz Haug macht auf ihn aufmerksam: Warum ist die Philosophie Marx‘, die sich mit gesellschaftlichen Konstellationen (insbesondere den widersprüchlichen) beschäftigt, und gerade nicht mit den ‚großen Männern‘ der Geschichte, nach einer Einzelperson benannt (vgl. Haug, Pluraler Marxismus)? Diese Bezeichnung verbaut den Blick auf die Marx’sche Philosophie, ist Symptom eines herrschenden Personalisierungszwangs, der den Weg zu Vereinfachungen, damit auch zu Verurteilungen, ebnet. Mit dem ‚Märchenonkel‘ Marx lässt sich leichter abrechnen als mit dessen stringenter Durchdringung der politischen Ökonomie.

Größer noch als in der Sowjetunion war der Schwindel selbstredend bei den Nazis; die Lüge wurde omnipräsent: „Der Nazi nennt kein Ding bei seinem Namen, sonst könnte bald jeder sehen, woran man ist. Er tauscht die Zettel um, schreibt auf Salz Zucker, auf Gift Honig und umgekehrt“ (Bloch, Ernst, Emir Franco als Nationalist (1936), in: Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt am Main 1985, S. 145). Die Nazis griffen das antikapitalistische Grundrauschen auf, das Weimar und Wirtschaftskrise erzeugt hatten, und bogen es zu Kriegswirtschaft und Massenmord um. Zur Kaschierung der tatsächlichen Ziele war keine Lüge unwillkommen. Als ein Beispiel unter vielen soll hier der Parteiname, NSDAP, genügen: Da ist zunächst das „Nationale“ enthalten, obwohl doch mindestens Europa, schlussendlich die ganze Welt am deutschen Wesen ‚genesen‘ sollte; da steht der „Sozialismus“ an zweiter Stelle, abgezogen vom friedlichen Zusammenleben aller in einer auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität errichteten Gesellschaft, aufgepfropft auf den Wahnsinn eines Verbrecherstaates, der in Komplizenschaft mit der Wirtschaft agierte; es folgt der „deutsche Arbeiter“, für den die Nazis von Anbeginn kein anderes Schicksal vorgesehen hatten, als ihn im Krieg zu verheizen; schließlich noch der Zusatz „Partei“, den man wohl selber nicht ganz ernst nahm, wollte die Lügen- und Mörderbande doch immerzu „Bewegung“ und „Revolution“ sein, die sie zu keinem Zeitpunkt war.

Gegenwärtige Falschetikettierungen

Es ist politisch mindestens ungeschickt, angesichts der gegenwärtig erstarkenden Rechtspopulisten an ’33 zu erinnern. Die Dimension der Demokratie- und Menschenverachtung, auch die der Täuschungen war damals eine wesentlich größere. Wer sich in dieser Hinsicht auf der politischen Bühne als großer Mahner hervortut, der gerät nur in Verdacht, von eigenen Fehlern ablenken zu wollen. Was sich diagnostizieren lässt, sind methodische Parallelen – etwa beim Parteinamen: Die Alternative für Deutschland trägt ihren Namen, weil sie keine anzubieten hat, weil sie lediglich das Wirtschaftsprogramm der Liberalen mit brauner Soße übergossen hat. Die Partei macht Politik gegen die Interessen derer, die sie zu vertreten vorgibt. Als Placebos werden Elitenhass und Fremdenfeindlichkeit gereicht, wobei auch in diesem Fall kaum ein Wort Substanz, kaum ein Satz einen festen Boden unter den Füßen hat. In Fernsehdebatten und Tweets, auf Facebook und Kundgebungen wird von einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad, von der Rehabilitation des Völkischen und dem Schusswaffengebrauch an der Grenze gesprochen; hinterher gibt man sich überrascht über den medialen Aufruhr und irgendwie war auch alles gar nicht so gemeint, wie es gesagt wurde; ewig falsch verstanden, aus dem Kontext gerissen und verfälscht werden, das ist – in eigener Wahrnehmung – das grausame Los des Rechtspopulisten; alles weitere wird zur Selbstverteidigung umgedeutet; auch die gab es bereits bei den Nazis – gegen den Schandfrieden von Versailles, gegen die bolschewistische Gefahr und die verjudete Kultur; für die AfD ersetze man nur die Schlagwörter: Gauland, Petry und Co. wollen sich wehren gegen das Diktat der EU, gegen die Lügen- und Lückenpresse und ein „links-rot-grün verseuchtes“ Land (der moderate Meuthen).

Die Täuschungen von rechts gedeihen auf einem Nährboden, den die sogenannten etablierten Parteien bereitet haben. Eine ausgiebige Selbstkritik ihrerseits würde den Populisten den größten Schaden zufügen – zu korrigieren gäbe es vieles: Wenn etwa die Union von Freiheit spricht, ist dann die der Geheimdienste gemeint, ungestört in die Privatsphäre der Bürger eindringen zu können? Oder die der Wirtschaft, diese Daten überhaupt erst zu sammeln? Oder doch die der Vermögenden, ungesühnt Steuerbetrug betreiben zu können? Die Diskrepanz zwischen vorgeschütztem Selbstbild und Realität ist enorm, nicht nur bei der Union. Versuche auf Seiten der SPD, diese Lücke zu schließen, dem eigenen Markenkern also wieder etwas näher zu kommen, haben die Wähler bisher nicht honoriert. Vielleicht waren die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren einfach zu sehr als Radieschen unterwegs – nur außen rot, innen nicht einmal weiß, sondern undefinierbar schillernd, mal schwarz, mal gelb. Nicht nur die Hartz-Gesetze trugen zu diesem Bild bei, auch leistete etwa die Enthüllung vom vergangenen Herbst, dass Gespräche mit dem SPD-Spitzenpersonal schlicht eingekauft werden können, oder der Unwille, sich im Bund zu einem links-grünen Bündnis zu bekennen, hierzu einen Beitrag. Weder Fisch noch Fleisch waren denn auch die kürzlich vorgestellten Steuerpläne: Zugeständnisse an die noch nicht vergraulten Stammwähler wechseln sich ab mit Beschwichtigungen gegenüber der Wirtschaft, mit einem Kanzler Martin Schulz werde es so schlimm schon nicht werden. Nur rot lackiert wird die SPD die Bundestagswahl nicht erfolgreich bestreiten können; wie es anders – das heißt: erfolgreicher – geht, hat vor kurzem die Labour-Partei in Großbritannien gezeigt: Mit einem dezidiert linken Programm ist man gegen eine herumeiernde Regierungschefin in den Wahlkampf gegangen.

Wer Etikettenschwindel betreibt, verliert an Glaubwürdigkeit; daran trägt nicht allein die SPD – Skandale aus Politik und Wirtschaft, die mit Betrug, Bestechung, auch mit Mord zu tun haben, belegen dies. Nach Aufdeckung wird von den Verantwortlichen immerzu Aufklärung versprochen, zumeist eine lückenlose. So war es, als der DFB mutmaßlich die WM 2006 einkaufte, als Volkswagen die Abgaswerte manipulierte, als der Verfassungsschutz dem NSU beim Morden sekundierte. Wenn es überhaupt Aufklärung in diesen Fällen gab, war sie äußerst lückenhaft, zumeist jedoch hat es unter ihrem Mantel Verschleppung, weitere Lügen und fortgesetzten Betrug gegeben. Das alles garniert mit Abschlussberichten, die im Sinne der Verantwortlichen vor allem vom Abschluss aller weiteren Nachforschungen berichteten. Alle Beteiligten in den Untersuchungsausschüssen und Staatsanwaltschaften mit einem aufrichtigen Aufklärungswillen (die es zweifellos gibt) scheinen hier einen Kampf gegen Windmühlen zu führen, einen Kampf, der trotz dieser scheinbaren Aussichtslosigkeit unerlässlich für die Demokratie ist. Nur wer sagt, was ist, gibt den Menschen die Möglichkeit zur Einmischung. Der Schwindler täuscht, weil er Veränderungen im Verborgenen, weil er verführen und manipulieren möchte. Kein planvolles Vorgehen, nur Berauschung, Wut und Apathie kann er heraufbeschwören – alle drei sind derzeit wieder auf dem Vormarsch. Die Entlarvung von Falschetikettierungen ist ein Mittel, ihnen Einhalt zu gebieten.

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