Viele Menschen wollen sich im Anderen gespiegelt sehen; am nächsten ist ihnen, was Ähnlichkeit aufweist. Vermeintlich idyllisch geht es zu, wo einen Vertrautes umgibt, Veränderungen – wenn überhaupt – nur berechenbar eintreten. Das Fremde bricht in ein solches Idyll als Verunsicherung ein, es macht zementiert Geglaubtes porös. Deshalb hat bisher noch jede Idylle eine kaum passierbare Grenze umgeben – so auch die Idylle Europa, die als Zerrbild rechtskonservativer Politik heute lebendiger denn je ist.
Der Kleinbürger, das Idyll und die Exoten
Getragen wird sie von einer kleinbürgerlichen Haltung; Roland Barthes umreißt sie: „Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzustellen. Wenn der Andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn, oder aber er verwandelt ihn in sich selbst. (…) In jedem kleinbürgerlichen Bewusstsein gibt es kleine Schattenbilder des Gauners, des Vatermörders, des Päderasten usw. (…) Manchmal – allerdings selten – erweist sich der Andere als nicht reduzierbar, nicht infolge eines plötzlichen Zweifels, sondern weil der gesunde Menschenverstand sich dem widersetzt. Einer hat keine weiße, sondern eine schwarze Haut, jener andere trinkt Birnensaft und keinen Pernod. Wie den Neger oder den Russen assimilieren? Hier gibt es nur eine Rettung: den Exotismus. Der andere wird zum reinen Objekt, zum Spektakulum, zum Kasperle. An die Grenzen der Menschheit verwiesen, stellt er für das Zuhause keine Gefahr mehr dar“ (Roland Barthes, Mythen des Alltags). Im gegenwärtigen Europa gedeiht eine solche kleinbürgerliche Haltung im konservativen Lager – nicht so sehr allerdings an seinen extremen Ausfransungen, sondern in der demokratischen Mitte (was eine wichtige Differenzierung ausmacht).
Gestalten vom Rande, etwa diverse AfD-Politiker, kämen nie auf die Idee, den Fremden zu leugnen oder ihn zu ignorieren. Sie brauchen ihn schließlich für Aufwiegelung und Hetze. Zwar stilisieren auch sie Land und Kontinent zur Idylle, gehen von einer „Invasion“ der Flüchtlinge (Björn Höcke), einer „schleichenden Landnahme“ (Alexander Gauland) – mithin also von einem Ort, den es zu verteidigen gilt – aus, wollen deshalb die Grenzen komplett schließen; doch gibt es bei ihnen keine Rettung in den Exotismus; sie müssen den Fremden nicht mühsam zum Kasperle machen, ihn an die Grenzen verweisen; schließlich wussten sie schon immer, wo dessen Platz ist: Nicht an den Grenzen der Idylle, sondern außerhalb von ihr. Nicht Exotismus ist ihre Lösung, sondern Rassismus, der kleinbürgerliche Verunsicherung ausnutzt, nicht jedoch in ihr seine Ursache hat. Bei Gauland dampfte diese Haltung wohl jahrzehntelang, intellektuell-christdemokratisch versiegelt, unter dem Tweed-Sakko; nun, am Ende der politischen Laufbahn, darf sie endlich entweichen. Höcke hingegen konnte eine frühere politische Heimkehr feiern, wohl auch deshalb fehlt ihm alle Zurückhaltung. Jede Art von Ketman ist ihm fremd – die Karten liegen auf dem Tisch.
Um die Rassisten allerdings soll es hier (zunächst) nicht weiter gehen. Interessanter ist jene von Barthes diagnostizierte, kleinbürgerliche Haltung im Kern des konservativen Lagers, in dessen demokratischer Mitte. Auch ihre Vertreter verteidigen die Idylle Europa – nicht jedoch im Namen der Rasse, sondern in dem des Wohlstands. Für ihn gibt es bereits seit einigen Jahren keine allzu rosige Zukunft mehr. Kaum ein Politiker versteigt sich noch zu der Prognose, den nachrückenden Generationen werde es einmal besser gehen als ihren Eltern und Großeltern. Die Zukunft trägt schwarz. Wechselweise heißt der Schrecken Digitalisierung, Mechanisierung, gedeihendes Asien oder darbendes Afrika. Gefahr droht gleichermaßen durch den Fortschritt der Produktionsmittel wie durch weltweite Konkurrenz, sodass sich ein Gefühl einstellt, ein Punkt in der Geschichte sei erreicht, von dem es nur mehr bergab gehen könne. Von diesem Gefühl (wie begründet es auch immer sein mag) nimmt die Angst vor dem Abstieg ihren Ausgang; von ihr wiederum nährt sich eine Partei wie die AfD. Wird noch versucht den technischen Fortschritt mit der Aussicht auf neue Berufsbilder, die Konkurrenz aus Fernost mit Kooperationen einzufangen, so wird die Idylle Europa vor der Armut Afrikas vor allem mit Abschottung geschützt.
Der wirtschaftliche Maßstab und eine dissoziative Störung
Einlass wird möglichst nur demjenigen gewährt, der den Autochthonen ähnelt: Präferiert wird der hochqualifizierte Fremde (sei dieser nun Afrikaner oder sonst woher), der ohne Familie kommt und mit seinem Wissen die heimische Wirtschaft voranbringen kann. Im Anzug des Geschäftsmannes oder im Kittel des Arztes kann er in der Masse aufgehen. Auf gar keinen Fall darf der Eindruck entstehen, es könne zu finanziellen Einbußen für die Einheimischen kommen. Alpha und Omega in der Begegnung mit dem Fremden, sei dieser nun Emigrant oder Flüchtling, ist dessen möglichst reibungslose Integration in den Arbeitsmarkt. Diese Verkürzung auf den wirtschaftlichen Aspekt muss scheitern, wenn von Krieg, Hunger und Terror Gezeichnete ins Land strömen; dennoch wird sie angewandt. Sie zeigt sich etwa auf den Facebook-Seiten von AfD und Pegida: Dort wird jede Nachricht über Alphabetisierungs- und Deutschkurse, jedes holprige Stück Integration mit den immergleichen Gehässigkeiten bedacht: ‚Da sind sie ja endlich, die neuen Facharbeiter! Die Retter unserer Rente!‘ Derlei zeigt sich als Dutzendware und unterstreicht die obige Unterscheidung: Diese Menschen verachten den vor Hunger geflüchteten Afrikaner, auch den Kriegsflüchtling aus Afghanistan nicht zuerst wegen seines Aussehens oder fremder Sitten und Verhaltensweisen, sondern wegen seiner Unfähigkeit, wirtschaftlich mit den Einheimischen Schritt zu halten.
Der Vorrang des ökonomischen Maßstabes ist manchen Menschen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihnen nicht aufgeht, dass dieser nicht zugleich der Maßstab für Asylberechtigte sein kann. Sieht man in größerer Perspektive die massive Ausbeutung, die von europäischen Unternehmen bis heute in Drittwelt- und Schwellenländern betrieben wird, getragen von einer Vielzahl vollkommen einseitiger, sogenannter Freihandelsabkommen, insbesondere mit afrikanischen Staaten, dann ist die beschriebene Haltung eine, die auch in der Begegnung mit dem Wirtschaftsflüchtling verfehlt ist. Doch wie nun verfährt die kleinbürgerliche Gesinnung, wenn sich der verarmte Fremde plötzlich im eigenen Land befindet?
Ignoranz und Selbstblendung helfen hier nur bedingt weiter. Das Asylantenheim kann zwar an den Ortsrand gesetzt werden, doch wird man dem Elend auf Dauer nicht entkommen können – und jeder Versuch einer Verwandlung des Fremden muss scheitern. In der Tat ist Armut der größte Exotismus von allen, nicht reduzierbar aufs eigene Dasein. Kargheit und Krankheit, die häufig mit ihr einhergehen, kann der Kleinbürger nicht mit seinem Leben in Verbindung bringen, darf dies auch nicht – es würde nur sein schlafwandlerisches Dasein stören und zu unangenehmen Fragen führen. Wie der raffgierige Unternehmer, der seine Belegschaft schröpft, oder der unverfrorene Politiker, der die Drehtür aus dem Amt direkt in die Wirtschaft nimmt, ist auch die Armut für den Kleinbürger vom Himmel gefallen. Er nimmt sie ursachenlos an, stellt keine Fragen zum Wirtschaftssystem, geschweige denn dieses grundsätzlich in Frage. Er ist aufrichtig gerührt vom aufgeblähten Hungerbauch des Negerkindleins – und spendet, um dann dasselbe Maß an Rührung für die eigene Großzügigkeit aufzubringen. Es verwundert ihn nicht, dass schon seit Jahrzehnten gespendet wird und sich dennoch nichts substanziell zum Besseren gewendet hat. Hunger, Bürgerkriege, Terror sind auch gegenwärtig allerorten zu finden, insbesondere wiederum in Afrika – ein Spektakulum sondergleichen, dem das kleinbürgerliche Europa mit dem Klingelbeutel den Garaus machen möchte. Der Beweis, dass diese Therapie nicht anschlägt, ist längst erbracht – und dennoch wird sie fortgesetzt, nicht (wie oft behauptet) zur Beruhigung des Gewissens – das hat sich gar nicht geregt –, sondern aus Gewohnheit.
Und irgendwo in sich, sehr versteckt, ahnt er es dann doch: Diese Armut hat mit mir zu tun, mit meiner Art zu leben. Gerade weil dem so ist, braucht es den Exotismus, das Wegschieben des Fremden. Wie formuliert es der Bettlerkönig Peachum in Brechts Dreigroschenroman: „Es ist mir auch klar, warum die Leute die Gebrechen der Bettler nicht schärfer nachprüfen, bevor sie geben. Sie sind ja überzeugt, daß da Wunden sind, wo sie hingeschlagen haben. Sollen keine Ruinierten weggehen, wo sie Geschäfte gemacht haben“ (Bertolt Brecht, Dreigroschenroman, in: Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1990, S. 169).
Wahrheiten verstecken sich mitunter in Implikationen, dort müssen sie herausgeschüttelt werden: Im Fernsehduell zwischen der Kanzlerin und ihrem Herausforderer zu Beginn des Monats sagte Angela Merkel im Zusammenhang mit der Flüchtlingskatastrophe, Europa habe lange genug nur die Früchte der Globalisierung genossen, nun lerne es deren Schattenseiten kennen. Damit ist zugleich auch gesagt, dass Armut und Elend in anderen Erdteilen die negativen Folgen der Globalisierung sind – eine bemerkenswerte Erkenntnis für eine Kanzlerin, deren Ziel es nicht sein konnte, ihre kleinbürgerliche Wahlklientel aus dem Schlaf zu wecken. Dazu ist der Satz selbstredend nicht geeignet, er weist aber unzweifelhaft in diese Richtung.
Die totale Abschottung!?
Jenseits solcher Implikationen spricht die Merkel‘sche Politik eine ganz andere Sprache: Maxime der vergangenen Monate war es, die Flüchtlinge möglichst aus dem Sichtfeld der Bürger zu entfernen. In Libyen wird ein Rumpfstaat, von dem nicht klar ist, ob er in einigen Wochen noch existieren wird, mit Sicherheitstechnik hochgerüstet, derweil die Flüchtlinge in selbigem Staat ein Sklavendasein fristen; in Absprache mit Frankreich kam man überein, in Mali Hotspots einzurichten, um bereits dort die Berechtigung für Emigration oder Asyl zu überprüfen (was wahrscheinlich zu Rosinenpickerei führen wird; kein Flüchtling wird es auf diesem Weg nach Europa schaffen, hat man doch bereits keine Lösung für diejenigen Geflüchteten parat, die schon auf dem Kontinent sind); mit anderen afrikanischen Staaten, darunter auch Diktaturen, sind Kooperationen geschlossen worden: Polizei und Grenzschutz der Länder werden ausgerüstet und trainiert, im Gegenzug erwartet Europa eine effiziente Abwehr der Flüchtlinge; schließlich lässt man den Italienern freie Hand bei ihrem Vorgehen gegen NGOs im Mittelmeer und hält unbeirrt am Flüchtlingsdeal mit der Türkei fest – allen Entwicklungen im Land zum Trotz. Die Grenzen der Idylle wurden geschlossen und verstärkt. Die Flüchtlinge sollen aufgehalten werden – wenn es sein muss auch mit Gewalt. „Die Sphäre des Idyllischen bildet ein befestigtes Ganzes – einen sich schließenden Kreis, der jedoch auf eine Umwelt bezogen bleibt, die bewegter, gewalttätiger und jedenfalls dem Wirken der Zeit verfallener ist als sein Innenraum“ (Albrecht Koschorke (u.a.), Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz 2010, S. 20).
Trotz all dieser Maßnahmen zeigt das Wahlergebnis vom Sonntag, dass die Politik der Kanzlerin augenscheinlich nicht dabei half, die Menschen in ihrem Irrglauben ausreichend zu besänftigen, die Prekarisierung im Lande habe irgendetwas mit den Fremden zu tun. Es ist nicht ruhig rechts von der Union, im Gegenteil. Doch was ist nun die Konsequenz, wenn Merkels Vorgehen, das humanitär mehr als fragwürdig ist, in dieser Hinsicht nicht ausreicht? Welche Prinzipien sollen noch, im Namen der vermeintlichen Verteidigung der eigenen Prosperität über den Haufen geworfen werden? Sollte es tatsächlich um die Ausweisung der Menschen gehen, die in den vergangenen Jahren Zuflucht in Europa gefunden haben? Meint Alexander Gauland ihre Entfernung aus der Idylle, wenn er nach der Wahl glücksbesoffen ins Mikrofon krakeelt, er wolle sich sein Volk zurückholen – und auf die Nachfrage, welches Volk er denn eigentlich meine, wie selbstverständlich entgegnete: Na ja, das vor dem Flüchtlingszustrom, natürlich! Die AfD singt dem Kleinbürger das schönste Wiegenlied. Alle Überlegungen zu Fluchtursachen oder der Verteilung von Flüchtlingen, die die Kanzlerin zumindest ab und an noch umtreiben, legt die Partei gleich ganz ad acta. Sie will die totale Abschottung der Idylle Europa. An diesem Punkt nun muss doch noch einmal von den Rassisten die Rede sein, denn die Phantasien von einem „Zurückholen“ des eigenen Volkes, von einer Verhinderung von „Mischvölkern“ (Jens Maier, demnächst Bundestagsabgeordneter für die AfD) instrumentalisieren die wirtschaftlichen Abstiegsängste der Menschen für die eigene fremdenfeindliche Agenda.
Selbstredend ist niemand in Deutschland arm, weil Flüchtlinge in kargen Behausungen am Stadtrand, ausgestattet mit ein wenig Taschengeld, ihr Dasein fristen; arm oder vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht sind die Menschen aufgrund einer wahnwitzigen Akkumulation von Macht auf Seiten der Unternehmen, aufgrund von befristeter Arbeit, deren Entlohnung kaum zum Leben reicht, aufgrund des Fehlens von bezahlbarem Wohnraum, der zum Spielball von Spekulanten geworden ist, aufgrund des Rotstifts der Regierenden, der immer zuerst beim Sozialen ansetzt, aufgrund von Steuerbetrug durch Vermögende in unvorstellbaren Ausmaßen – und so fort. Wer dies einsieht, kann sich nicht mehr an das Bild von der Idylle klammern; stattdessen wäre der Schulterschluss über das Mittelmeer mit den Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen fällig, die ebenso Opfer einer freidrehenden Weltwirtschaft sind (natürlich in wesentlich verschärfter Form, geht es bei ihnen schließlich ums Überleben). Allein, dieser Schritt wird nicht getan. Anstatt den Weg zu einer tatsächlichen Idylle einzuschlagen (die es nur mit Kontakt und wirtschaftlicher Gleichheit geben kann), wird lieber weiter der sozialen und kulturellen Inzucht gefrönt. In der kleinbürgerlichen Idylle geht es weder vor noch zurück – und das vorhandene ökonomische Gefälle lässt man sich von konservativen Politikern zum Naturgesetz erklären. Derweil nimmt die Gewalt an der Grenze der Idylle – dort, wo sie erwartet wird – immer mehr zu; sie ist dem Europäer Spektakulum und Quell der Rührung zugleich – doch mit ihr zu tun hat er…nichts.