Hartnäckig hält sich die gutwillige Pädagogenphrase, dumme Fragen gäbe es nicht. Bei der ARD ist man nun zum Beweis des Gegenteils angetreten, indem Marcus Vetters Dokumentarfilm über das jährlich stattfindende Treffen des Weltwirtschaftsforums der in seiner Schlichtheit fast schon anrührende Untertitel „Rettet Davos die Welt?“ hinzugedichtet wurde. Unweigerlich stellt sich die Frage, nach welcher Unwahrscheinlichkeit, nein eigentlich Unmöglichkeit, in den öffentlich-rechtlichen Redaktionsstuben demnächst gefahndet wird: Löschen die Brandstifter das Feuer? Sorgen Mörder für einen Rückgang der Sterblichkeit? Oder vielleicht auch, mit echt christlich-leitkulturellem Einschlag: Wird den Kinderschändern im Ornat vom Vatikan das Handwerk gelegt?
Nun hinken diese Vergleiche allerdings ein wenig, steht doch Mördern wie Zündlern und sogar der Kurie der Weg zur Umkehr offen. Sie bestreiten ihn über die Einsicht in die Verwerflichkeit ihrer Handlungen. Den geläuterten Kapitalisten hingegen, den gibt es nicht; hat es nie gegeben, wird es auch nie geben – und zwar nicht, weil sich der Auswurf des Menschengeschlechts in den Führungsetagen von Unternehmen konzentrieren würde, sondern weil der Kapitalismus außerhalb moralischer Maßstäbe steht (bzw. mit einer kapitalistisch zugerichteten Ethik weder repariert noch gar ausgehebelt werden kann). Qua System kommt dem Kapitalisten die Rolle desjenigen zu, der den Mehrwert der Arbeitskraft anderer abschöpft, der besitzt, woran andere ihr Tagwerk tun, der schließlich bei Strafe des eigenen Unterganges gezwungen ist, sich dem Wettbewerb zu stellen. Eine Scheidung zwischen ritterlichen Wohltätern und teuflischen Ausbeutern kann es hier nicht geben. Durch und durch undemokratisch zersetzt kapitalistische Wirtschaftsweise ein Gemeinwesen, das sich dennoch unerschüttert ‚demokratisch‘ nennt. Nicht nur also hat die in Davos sich jährlich treffende Unternehmerschaft gar kein Interesse daran, „die Welt“ aus einer Lage zu „retten“, von der sie profitiert; auch ist sie hierzu gar nicht in der Lage, müsste sie sich doch selber, eben als kapitalistische Unternehmerschaft, abschaffen.
In seinen besten Momenten stößt Vetters Film (den dieser schlicht „Das Forum“ taufte) an diese für die Damen und Herren von Davos unüberwindbare Schranke kapitalistischen Wirtschaftens – etwa wenn Klaus Schwab, Gründer und seit Jahrzehnten Impresario des Davoser Theaters, auf seine Verbandlungen mit Monsanto angesprochen wird (das Unternehmen ist Partner des Forums). Es folgt ein längeres Schweigen Schwabs, Ausdruckslosigkeit im Gesicht, irgendwo zwischen Unverständnis und Müdigkeit, bis er schließlich sinngemäß antwortet, es dürfe nicht alles schwarz gesehen werden. Wäre ihm ein wenig mehr Zeit gegeben worden, dem Gastgeber wäre bestimmt noch irgendein Projekt Monsantos eingefallen, mit dem das Unternehmen an den von ihm in den Ruin getriebenen Kleinbauern seine vergiftete Humanität beweist. Auch durch Pestizidbelastung verkrüppelte Neugeborene in Südamerika oder sterbende Bienen im Norden des Kontinents böten sich für eine Wohltätigkeit an, derer es ohne Monsanto gar nicht bedürfte. So, und nicht anders, gibt Davos vor, die Welt (vor Davos) zu retten. Es ist der Anschein einer Rettung, die gar nichts retten, sondern sich im Schein erschöpfen soll.
Was zu bleiben scheint als letzte Hoffnung im Schweizer Bergdorf, ist die Politik. Doch selbstredend muss auch sie enttäuschen: Marx und Engels, Luxemburg und Lukács – sie alle hätten Tränen vergossen, wohl aus Freude wie Verzweiflung gleichermaßen, über die Anschaulichkeit, mit der es Vetter zuweilen gelingt, die ungebrochene Wahrheit ihrer Einsichten, auch noch Jahrzehnte nachdem sie formuliert wurden, zu bebildern. Da sitzt etwa Donald Trump mit einer Gruppe CEOs von Weltunternehmen in einem Raum zusammen und lässt die hohen Herren – ganz so, als hätte er eine Horde Pennäler um sich geschart – sich zunächst vorstellen, um sie im Anschluss zu fragen, ob sie denn auch artig in den Vereinigten Staaten investieren würden. Die hochnotpeinliche Szene endet damit, dass Trump dem Vorsitzenden von SAP gewichtig-händeschüttelnd gratuliert, nachdem dieser sich zuvor in Selbstbeweihräucherung übte mit der Bemerkung, alle am Tisch anwesenden Unternehmen seien auf Software aus seinem Hause angewiesen; außerdem nutze auch die amerikanische Armee Programme von SAP, um „die Welt zu beschützen“. Vielleicht ist das nun tatsächlich Spätkapitalismus: Die bürgerliche Gesellschaft hat eine unternehmerische Lachnummer zum Anführer der sogenannten freien Welt gewählt, die einzig in Deals, in den Kategorien von Gewinnen und Verlieren denken kann, die Bedürftigkeit verachtet und verlacht (sofern sie nicht für die eigene Inszenierung instrumentalisiert werden kann) und die sich nicht einmal die Mühe macht, in Amt und Unwürde die Rolle als Mann der Wirtschaft abzulegen. Wahrlich, es treffen sich Gleiche in Davos. – Der kapitalistische Unterbau bestimmt fortgesetzt, und vielleicht deutlicher denn je, den staatlichen Überbau.
Wer eines weiteren Belegs für diese Erkenntnis bedarf, bekommt ihn am Ende des Filmes geliefert: Eine Funktionärin von Greenpeace nähert sich beim informellen Zusammensein zwischen den Veranstaltungen dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Sie spricht über das Amazonas-Gebiet und die dort lebende indigene Bevölkerung, derweil der Präsident sie keines Blickes würdigt, ihren Monolog stumm erduldet und so ins Leere laufen lässt. An diesem Punkt erübrigt sich jede weitere Nachfrage, wessen Interessen die Politik tatsächlich vertritt. Und doch ist die Rettung der Welt in Davos allgegenwärtig: Politiker wie Trump und Bolsonaro sehen ihr Handeln als Dienst am wirtschaftlichen Wohl ihrer Landsleute, Klaus Schwab wird nicht müde, von der Verantwortung des Unternehmers gegenüber der Gesellschaft zu faseln, und auch bei einem Sommertreffen der Partner des Forums wabert der entstellte Geist von Nach- und Ganzheitlichkeit durch die versammelte Unternehmerschaft. Gerade letztgenanntes Treffen liefert noch einmal eindrückliche Bilder für die Bestätigung marxistischer Lehren: Auf einer Zürcher Dachterrasse mit Seeblick, im Hintergrund das Panorama irgendwelcher Schweizer Hügel, kommen ein Sack voll Wirtschaftsführer zusammen und geben vor, gemeinsam an der Rettung des Erdballs und seiner Bewohner zu arbeiten. – Auch der Kapitalist lebt in Verdinglichung und Entfremdung, nur fühlt er sich wohl darin – möglichst exklusiv und mit Ausblick, bei Schampus und Häppchen, im Gewand des Erlösers.
Vetters Dokumentation hat seine schwächsten Passagen, wenn sie sich auf diese, notwendig verzerrte, ideologische Perspektive der Erlösung im und durch den Kapitalismus einlässt. Wenn sie sich also auf Geschichtslosigkeit und Symptombekämpfung, auf die Halb- und Lauheiten einer entstellten Ethik einlässt. Das meint zuvorderst die Suche nach dem guten Kapitalisten, neudeutsch social entrepreneur genannt. In Indonesien bei der (vorgeblich) nachhaltigen Palmölgewinnung und in Ruanda bei der Auslieferung von Blutkonserven per Drohne wird der Eindruck erweckt, ihn gefunden zu haben. Das in Afrika tätige Unternehmen besucht Klaus Schwab persönlich und preist die Verantwortlichen ausgiebig für ihr lebensrettendes Handeln. Hier nun macht eine Moral der Unmittelbarkeit und des Partikularen ihre größten Geländegewinne in Vetters Film. Die Notlage in einem afrikanischen Land scheint vom Himmel gefallen (so wie der Regenwald in Indonesien einfach verschwunden ist); und ganz gleich, ob man sich nun die Scheuklappen-Perspektive zu eigen macht oder nicht, es ist sogar Wahres am Ideologischen zu entdecken: Die Drohnenflüge verringern die Transportzeiten, Menschenleben werden gerettet. Doch wird der Winkel weiter gestellt, zeigt sich, dass hier Pflaster auf pulsierende Wunden gedrückt werden, dass auch diese Unternehmung natürlich an ihrer Rentabilität gemessen wird – sie lebt dank ihr und stirbt mit ihr; und vor allem zeigt sich, dass Flickwerk an strukturellen Problemen betrieben wird, die es ohne den Kapitalismus gar nicht gäbe.
Diese Diagnose ist ebenso wahr für den Klimawandel. Eine tatsächlich demokratische Weltwirtschaft überließe das Schicksal von Hunderten Millionen Menschen nicht den Zufällen und Eingebungen des technologisch-ökonomischen Fortschritts. Und kaum etwas ist verhängnisvoller, als Greta Thunberg zur Gallionsfigur der Klimarettung zu stilisieren, worauf Vetter im letzten Drittel seines Filmes verfällt. Die Maßstäbe für den Klimaschutz sind nicht aus den Reden eines schwedischen Teenagers zu gewinnen. Thunberg hat ihre große Leistung längst vollbracht – Bewusstsein zu schaffen; auch hat sie, wohl mehr instinktiv denn überlegt, die richtige Gegnerschaft adressiert: Maßstab für den Schutz des Klimas sind die Handlungen der Kapitalisten von Davos. Da sie notwendig an dieser Aufgabe scheitern werden, weil ein Gelingen systemisch gar nicht ihren Interessen entspricht, wird sich, ideologischer Verblendung sei Undank, das bürgerliche Journalistenheer in zehn, fünfzehn Jahren nach Schweden aufmachen, um die dann erwachsene Greta Thunberg mit bedeutungsschwerer Miene auf das krachende Scheitern ihrer Schulstreiks fürs Klima anzusprechen. Mit den Fragen gehen die Berichterstatter heute schon schwanger, Schlichtheit ist kein Hemmnis: Waren die Erwartungen zu groß? Die Parolen zu simpel? Die Pläne nicht ausgereift genug? Derweil lädt Klaus Schwab, mittlerweile fast einhundert Jahre alt, zum jährlichen Weltrettungsbrainstorming ins winterliche Davos. Barmherzigkeit konserviert – vor allem die geheuchelte.