Man hat um die unmittelbare Gefahr noch gar nicht gewusst, da flattert auch schon der Appell zur Rettung der Demokratie in den Briefkasten; in Kapitalien grölt es die AfD Baden-Württemberg einem entgegen: „BÜRGER, VERTEIDIGT EURE GRUND- & FREIHEITSRECHTE!“ Damit nicht genug: Dreifach unterstrichen ist der Aufruf – in schwarz, rot und gold, was insofern sinnvoll erscheint, als ja nicht immer ganz klar ist, von welchem Land die AfD eigentlich spricht. Wo die patriotische Pflicht getan, die Deutschlandflagge glücklich untergebracht ist, kann nun die Gewissheit verkündet werden, finstere Mächte seien am Werk – im Kanzleramt sowieso, aber auch im Landeskabinett: „Unter dem Vorwand, die Corona-Pandemie zu bekämpfen, haben die Regierungen Merkel und Kretschmann unsere Grund- und Freiheitsrechte im größten Umfang seit dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt“. Knapp fünfzehn Jahre hat sie also gelauert, nun – auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft – kommt Angela Merkel ein Virus zur Hilfe, den lang geplanten Staatsstreich endlich ausführen zu können – und im Ländle sekundieren die grünen Spezis. Bei der AfD weiß man, dass es seit ‘45 nie so schlimm um die Verfassung stand, womit die Partei ihre ganz eigene translatio imperii herstellt: Nicht wir sind die Nazis, sondern die Regierenden in Berlin und Stuttgart.
Damit ist inhaltlich und tonal die Marschrichtung des Handzettels gesetzt: Politische Wirrköpfe und/oder Demagogen verdrehen Tatsachen. Systematisch und planmäßig, so legen es die Ausführungen dar, werde derzeit das Grundgesetz ausgehöhlt; die Diktatur ist nur mehr einen Nieser entfernt. Ganz wichtig für die Vermittlung dieser Botschaft ist, dass die Pandemie in den Hintergrund gerückt, ja eigentlich fast schon verleugnet werden muss. So seien etwa „Gottesdienste in Kirchen und Synagogen“ – von Moscheen ist natürlich nicht die Rede, wird dort bekanntlich doch allein dem Terror, nicht dem lieben Gott gehuldigt – „nach dem schlimmsten Vorbild kommunistischer Regime untersagt“ worden. Man lerne: Nicht das Virus sollte eingedämmt, sondern dem roten Osten der Vergangenheit, Stalin und Mao, sollte nachgeeifert werden; die Bundesrepublik ist demzufolge auf dem Weg, die Sowjetunion des 21. Jahrhunderts zu werden. Wie trostreich und mutig, dass sich die AfD da noch traut, mich gut aufklärerisch als „BÜRGER“ anzuschreien, wo sich doch allüberall nur noch mit ‚Genosse‘ angeredet wird. Ganz ohne Religion kommt das neue rote Reich allerdings nicht aus. Denn die Islamisierung des Abendlandes wird natürlich unverändert vorangetrieben; nichts anderes bezeugt doch der Umstand, dass „über Lockerungen (…) erst nachgedacht [wird], wenn der Ramadan gefährdet ist!“ Welch Glück, dass Alice Weidel und Konsorten mich retten werden vor dieser unreinen Mischung – vor salafistischen Stalinisten und muslimischen Maoisten. Die Ironie überdreht hier leider kaum; sie hat nur wirklich Mühe, den Wahnsinn noch einzuholen: In einem Positionspapier der Thüringer AfD-Landtagsfraktion wird vor einem Umbau in ein „multikulturelles ökosozialistisches Utopia“ gewarnt.
Nimmt es angesichts dieser Gefahr noch wunder, dass die Neonazis in Anzug und Businessblazer so ein bisschen Pandemie nicht schreckt. Der Feind steht woanders, und alles, was er tut, trägt Gift in sich: „Die Regierungen legen ein Hilfspaket nach dem anderen auf, um Bürger, die arbeiten wollen, zu hilflosen Empfängern von Almosen zu machen.“ Der Zweck staatlicher Geldzuwendungen ist folglich nicht das Leisten von Hilfe, sondern die Verlängerung von Hilflosigkeit. Nach gleichem Muster schreiben sie bei der AfD politische Handzettel: Der Zweck des Denkens ist nicht der Gedanke, sondern die Gedankenlosigkeit.
Nachdem Führung und Fußvolk einer unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung betriebenen Verschwörung identifiziert sind, kann sich an die Rettung der Freiheit gemacht werden – dies auf einem Niveau, das jedes Verteidigungsmittel angemessen erscheinen lässt. Zuvorderst ist da der Zwang zum Mundschutztragen, der gegen den zweiten Artikel des Grundgesetzes verstoße. Und tatsächlich, wie entbehrungsreich sind Einkaufen sowie Bus- und Bahnfahrten seit einigen Wochen: Das obligatorische Küsschen für die Kassiererin, kräftiges Ausspucken im Supermarktgang, das Bedienen des Fahrkartenautomaten mit Nase und Zunge, der Eskimogruß an der Fleischtheke – all das ist schon zu lange nicht mehr möglich und wird schmerzlich vermisst. Also, an die Waffen, „BÜRGER“! Dies nicht nur, um sich der unerträglichen Schutzmasken zu entledigen, sondern auch, um die Alten aus der Isolation zu befreien. „Großeltern werden wie Aussätzige behandelt und es wird massiver Druck aufgebaut, keinen Kontakt mehr zu den eigenen älteren Verwandten zu haben.“ Während man noch der Massivität des Drucks nachspürt, überwältigen einen Treue und Konsequenz der AfD – Treue zur Unwahrheit und Konsequenz gegenüber selbstverordneter Unwissenheit. Bejahrte Menschen werden kurzerhand zu Leprakranken erklärt, was nahelegt, es gehe um den Schutz der Jüngeren vor den Alten, wo es tatsächlich umgekehrt um den Schutz der Alten vor den Jungen geht, die symptomlos das Virus in sich tragen und verbreiten können. Neurechts entstellt bedeutet Freiheit nur mehr, seine Arbeitskraft verkaufen zu können (tatsächlich Vehikel von Unfreiheit) und Oma und Opa mit einer potentiell tödlichen Krankheit anstecken zu dürfen. Der Volkskörper gesundet am Virus – so denken sie es sich wohl bei der AfD, ihren geistigen Urvätern eng verbunden.
Historische Verwandtschaft stellt sich auch im Jammern ein: Die Freizügigkeit innerhalb Deutschlands ist eingeschränkt, es gibt Grenzkontrollen zwischen den Bundesländern, Zweitwohnsitze dürfen nicht aufgesucht werden, und das „alles, während die deutschen und europäischen Außengrenzen noch immer ungesichert sind.“ Ähnlich wimmerte man auch im Dritten Reich. ‚Ach, was muss ich leiden unter der Erfüllung meiner Pflicht‘, klagten Gestapo-Männer und KZ-Aufseher – und schickten die Juden ins Gas. ‚Ach, was hab ich es schwer, mein Ferienhaus an der See zeitweilig nicht mehr besuchen zu dürfen‘, seufzt der deutsche Michel, während Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und an der griechisch-türkischen Grenze mit scharfer Munition geschossen (und tödlich getroffen) wird. Blind gegenüber wirklichem Leid, werden kurzfristige Einschränkungen zum Verbrechen erklärt. Überflüssig zu erwähnen, dass nicht nur Europa bereits vor der Pandemie einer abgeriegelten Festung glich, auch die deutschen Außengrenzen werden derzeit streng kontrolliert. Nur ist dies für die AfD wohl eine Selektion aus den falschen Gründen. Nicht zur Eindämmung einer Krankheit soll abgewiesen werden, sondern auf Grundlage von Hautfarbe und Religionszugehörigkeit.
In Zeiten der Pandemie stehen die Lügen der Partei nicht mehr einseitig im Dienste des Rassismus; sie nähren nun verstärkt auch Verschwörungstheorien abseits des ‚großen Austauschs‘ des deutschen Volkes. So ist man sich in der hier behandelten Handreichung nicht zu schade, nahezulegen, ein Impfzwang werde auf breiter Front von Politikern und Medien diskutiert; auch Zwangsinstallationen von Corona-Apps stünden schon bald bevor. Das Fischen im Milieu der Aluhüte verfängt momentan noch nicht so recht. Das könnte sich allerdings ändern, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie voll durchschlagen und sich langfristig bemerkbar machen. Der Ton wird wohl noch schriller werden und die Feinde der Verfassung werden sich fortgesetzt als deren Verteidiger inszenieren. Noch energischer wird man einen Gegner bekämpfen, der nicht existiert, und mit verlogenem Pathos sich in den billigen Kampf für Freiheiten stürzen, die nicht grundsätzlich infrage stehen (ja teilweise bereits wieder hergestellt sind). Zur Bürgerpflicht wird dann endgültig erklärt, auf eine Normalität zu pochen, die zehntausenden Menschen das Leben kosten würde. Aber es wird schon der Tod der anderen sein – so müssen die handzettelgewordenen Schmierereien der Partei interpretiert werden.