Die drängendste Frage der Gegenwart, die nach den Ursachen für den Aufstieg der Rechtspopulisten und Demagogen, der Lügner und Rassisten, kennt viele Antworten. Einige sind an dieser Stelle bereits versucht worden – die wachsende soziale Ungleichheit, eine Debatte in Extremen, Medien, die sich den Abstand zum Ereignis nicht mehr leisten (können oder wollen). Eine Antwort jedoch fehlt, taucht auch anderswo höchstens marginalisiert auf: Gemeint ist der Dämmerzustand, den etwas mehr als eine Dekade Merkel’scher Kanzlerschaft über die Demokratie in Deutschland gebracht hat.

Der persönliche Zugang

Das explizit Persönliche kam in diesem Blog bisher nicht vor, an dieser Stelle drängt es sich auf. Ich bin 27 Jahre alt. Als ich begann mich für Politik zu interessieren, lag die Kanzlerschaft Gerhard Schröders in ihren letzten Zügen. Seitdem wurde ich von Angela Merkel regiert; ich kenne kaum etwas anderes. Die Art und Weise, wie sie dies tat (und tut), war mir bereits als Jugendlicher nicht geheuer – was seinerzeit allerdings mehr ein diffuses Gefühl denn exakt artikulierbare Kritik war. Diesen Nebel mussten die Jahre lichten; was nun halbwegs klar vor mir steht, ist in diesen Text eingegangen: Angela Merkel tritt ohne Ideen an, sie bietet keine Reibungsfläche, ist in Rede und Handlung weder leidenschaftlich noch kämpferisch; sie verwaltet. Der Austausch von Argumenten, auf dem Fundament einer klar erkennbaren Haltung, ist in ihrer Regierungszeit vielleicht noch nicht begraben worden, aber doch mindestens ins Siechtum entglitten. Merkel laviert, anstatt sich zu positionieren; die Richtlinienkompetenz, die ihr das Grundgesetz zubilligt, liegt größtenteils brach; wird sie einmal konkret, so scheinen ihre Standpunkte austauschbar. Die Politikerin Merkel stellt immerzu ein Bild aus, das weder Umrisse noch einen klaren Inhalt zeigt. Sie hinterlässt eine Leere, die seit einiger Zeit vom Rechtpopulismus mit Verheißungen, Parolen und Vereinfachungen gefüllt wird. Auch hinterlässt sie eine politisch vollkommen ernüchterte Jugend. „Gute Jugend glaubt, daß sie Flügel habe und daß alles Rechte auf ihre herbrausende Ankunft warte, ja erst durch sie gebildet, mindestens durch sie befreit werde. (…) Die Stimme des Andersseins, Besserseins, Schönerseins ist in diesen Jahren so laut wie unabgenützt, das Leben heißt ‚Morgen‘, die Welt ‚Platz für uns‘“ (Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 132). Angela Merkel hat einer ganzen Generation die Flügel gestutzt; sie von der Politik – als einem Ort, an dem die Stimmen des Besserseins ihren Platz haben sollten – entwöhnt; das Leben heiß bei ihr ‚Krise‘, die Welt ‚Ort der Alternativlosigkeit‘.

Was im Ergebnis nach Generalverdammung klingt, ist tatsächlich ambivalent, ja geradezu paradox: Ich halte Angela Merkel für eine aufrichtige Demokratin, deren Beitrag zur Schwächung der Demokratie allerdings (unter Demokraten) beispiellos ist. Ich denke, ihr Eintreten für eine freie, plurale Gesellschaft, in der unterschiedliche Meinungen Platz haben und miteinander streiten können, ist wahrhaftig – nur möchte ausgerechnet sie selber, die Regierungschefin, kein Teil dieser Auseinandersetzung sein. Ich nehme ihr ab, freie Wahlen für eine gute Einrichtung zu halten – nur scheint sie mir am zufriedensten, wenn möglichst wenig Menschen den Weg zur Wahlurne finden. Kurzum, sie ist in den vergangenen elf Jahren immer auch ‚meine‘ Kanzlerin gewesen, obwohl ich ihren Politikstil für demokratiezersetzend halte, obwohl ich mit den Positionen ihrer Partei (so sie denn erkennbar sind) kaum etwas anfangen kann, obwohl ich mich nur selten von ihr repräsentiert fühle, obwohl ich nie für eine Kanzlerin Merkel ein Kreuz gesetzt habe. Was auf der positiven Seite dieses widersprüchlichen Ergebnisses steht, ist leicht begründbar: Merkel hat ein derart bewundernswert unaufgeregtes, nüchternes Verhältnis zu Macht und Amt, dass ein aktiv betriebener Missbrauch ihrerseits undenkbar scheint. Sie schadet der Demokratie durch Passivität, nicht durch Zerstörung – das stimmt milder. Schwieriger ist es, die negative Seite zu erläutern, die gravierenden Vorwürfe, die auf den ersten Blick unverhältnismäßig erscheinen mögen. Vom Versuch einer Erklärung handelt dieser Text, der die Jahre Merkel’scher Kanzlerschaft als langes Vorspiel für die politische Situation im Deutschland des Jahres 2016 begreift.

Eine Frau, die nicht zu fassen ist

Die Wandbemalungen in den Tempeln der altägyptischen Herrscher kennen ein Thema, das in der Abfolge nahezu immer gleicher Szenen dargestellt wird: die Geburt des Königs. Mit dem Bedienen der Tradition untermauerten die Herrscher ihre Legitimität. Auch die Königin Hatschepsut (ca. 15 Jh. v. Chr.) ordnete an, die Wände eines Tempels in der Totenstadt Deir el-Bahari mit einer Darstellung ihrer Geburt zu versehen (vgl. Naville, Edouard, The Temple of Deir el-Bahari, Bd. 2 (Plates XXV.-LV. The Ebony Shrine, Northern Half of the Middle Platform), Hrsg.: Egypt Exploration Fund, London 1896, S. 15 ff., 45). Ob nun auf Dekret der Herrscherin oder irrtümlicherweise, die Maler hielten sich allzu streng an die Tradition und trugen die Geburt eines Jungen auf, während hingegen der begleitende Text ein Neugeborenes weiblichen Geschlechts ausweist. Die Information, die von der Wandbemalung übermittelt wird, stimmt mit der Realität nicht überein. Sie dokumentiert lediglich das Festhalten am Immer-Gleichen, die Versicherung, dass es keine Veränderungen geben wird, unabhängig davon, ob dieses Festhalten am etablierten Bild die Realität verzerrt oder nicht. Zugleich sorgt der Text mit seiner gegenteiligen Information für Verwirrung, sodass die bediente Tradition mit einem Fragezeichen versehen werden muss.

Pharaonin Hatschepsut
Das Verwirrspiel um das Geschlecht der Pharaonin wird nicht nur auf den Wänden ihres Totentempels ausgetragen. Viele Statuen zeigen Hatschepsut mit dem falschen Zeremonienbart ihrer Amtsvorgänger und -nachfolger. Lizenz: CC by-sa 3.0, Rechteinhaber: Brück & Sohn Kunstverlag Meißen, Original: Hatschepsut 1956.

Da Angela Merkel insbesondere in der Innenpolitik jede Position recht zu sein scheint, die reibungsloses Regieren garantiert, könnten an dieser Stelle zwar einige ihrer Richtungswechsel dokumentiert (Energiepolitik, Eurorettung, Mindestlohn, Quotenregelung), jedoch nie der Kontrast zwischen tatsächlichen Überzeugungen und dem gestellten Bild deutlich gemacht werden. Der ständige Wechsel zwischen verschiedenen Positionen führt dazu, dass alles gestellt erscheint. Wird dies auf die Überlieferungen von Bild und Text im Tempel der ägyptischen Herrscherin übertragen, so wäre es so, als müsste in ewiger Ungewissheit darüber gelebt werden, ob es sich bei Hatschepsut nun um eine Frau oder um einen Mann gehandelt hat. (Amüsant ist in diesem Zusammenhang die Erinnerung an einen Auftritt Merkels aus dem Jahr 2008: Zur Eröffnung der Osloer Oper erschien die Kanzlerin mit tiefem Dekolleté, woraufhin es im Blätterwald des Boulevards rauschte, als hätte man nach drei Jahren erstmals festgestellt, tatsächlich von einer Frau regiert zu werden.) Anders als das Geschlecht der Königin (und das der Kanzlerin), sind Merkels Positionen jedoch tatsächlich nicht erfassbar. So zieht etwa der Journalist Dirk Kurbjuweit folgende innenpolitische Bilanz ihrer ersten Legislaturperiode: „Sie hätte mal nein sagen können und dann sehen, was passiert. Sie hätte verhandeln können, kämpfen. Sie hätte hin und wieder klar sagen können, was sie eigentlich will. Das wäre Führung gewesen. Sie aber hat auf Führung verzichtet. Sie hat, dabei bleibt es, als Reformpolitikerin ihre Kontur verloren. Sie hat sich aufgelöst. Es gibt kein klares Bild mehr von ihr, nur noch ein verschwommenes. Beck ist in der Bundespolitik gescheitert mit dem Satz: „Ich will mich nicht verbiegen.“ Merkel hat regiert mit dem Satz: „Ich bin bereit mich zu verbiegen““ (Kurbjuweit, Dirk, Angela Merkel. Die Kanzlerin für alle?, München 2009, S. 101).

Das stete Lavieren war in ihr angelegt, lange bevor es sich als ein wirkungsvolles Mittel zum Machterhalt erwiesen hat. Merkel misstraut Überzeugungen und klaren Standpunkten; sie misstraut auch dem tätigen Menschen, der aktiv auf Veränderungen hinwirkt – und seien es Veränderungen zum Besseren. Hans-Joerg Osten, mit dem Merkel in den 80er Jahren in der Berliner Akademie der Wissenschaften zusammenarbeitete, berichtet folgende Anekdote aus der Wendezeit: Als der Revolutionswinter ’89 immer weiter an Fahrt aufnimmt, steigt die Aufregung innerhalb der Akademie; die Mitarbeiter finden zusammen und diskutieren miteinander. Nur Merkel soll allein an ihrem Schreibtisch gesessen haben, vertieft in Fachliches. Osten geht zu ihr und fragt sie, warum sie nicht bei den anderen sei. Da entgegnet sie ihm lapidar, die Diskussionen brächten doch ohnehin nichts (vgl. Osang, Alexander, Das eiserne Mädchen, in: SPIEGELreporter (3) 2000).

Als es nach dem Mauerfall galt sich politisch zu orientieren, zog es Merkel nicht unmittelbar in die CDU. Nachdem sie sich jedoch weder den Grünen aufgrund programmatischer Differenzen noch der SPD aufgrund des ständigen Drucks von der Basis, den sie als ebenso lästig und hinderlich empfand wie die Kumpanei unter den Genossen, anschließen wollte, ging sie zunächst zum Demokratischen Aufbruch (DA). Noch im Jahr 1990 fusionierte die Partei mit der CDU. Am Ende des Jahres wurde Merkel von Helmut Kohl als Bundesministerin in sein viertes Kabinett berufen. Mit Wolfgang Schäuble, seinerzeit mit dem Innenministerium betraut, hatte sie sich rasch eine Figur auserkoren, von der sie lernen konnte. Bezeichnend ist, welche Eigenschaften ihr besonders an Schäubles Politikstil imponierten: „Unspektakulär, abwägend zwischen klarer Zielvorgabe und notwendigen Kompromissen, ohne die eigene Position zu verraten“ (Gerste, Margrit, Die junge Frau von Helmut Kohl, in: Die ZEIT (38), 1991).

Auf die Frage, ob sie nicht als ehemalige DDR-Bürgerin auch neue Orientierungen in den gesamtdeutschen Politikbetrieb einbringen könne, entgegnete sie entgeistert, dass sie doch keine zweite Frau Honecker sei. Es ist ein äußerst eigenartiges Verhältnis zur Demokratie, wenn die deutliche Meinungsäußerung als erster Schritt auf dem Weg in eine neue Diktatur angesehen wird. Merkel sah es seinerzeit nicht als ihre Aufgabe an, innerhalb der Partei irgendwelche Reformvorschläge zu machen. Dies änderte sich in der folgenden Dekade auch nicht in ihren Ämtern als Bundesumweltministerin (1994-1998) und als CDU-Generalsekretärin (1998-2000). Kurz vor ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden im April 2000 werden Merkels 90er Jahre in der ZEIT folgendermaßen zusammengefasst: „In der Euphorie [der Medien] darüber, dass man der CDU offenbar eine Vorsitzende einfach so auf den Leib schreiben kann, scheint die Frage ganz nachrangig, was Angela Merkel politisch geleistet hat. Das mag daran liegen, dass man sich an herausragende Merkel-Initiativen kaum erinnern kann. Als junge Ost-Frau bediente sie – größter Pluspunkt bei ihrem Förderer Kohl – eine Dreifachquote, ohne das Machtgefüge in der Union zu stören. Als Familienministerin blieb sie blass, als Umweltministerin vertrat sie nette Standpunkte, die in der CDU allerdings nicht mehrheitsfähig waren. (…) Über ihre Vorstellungen zur Zukunft der CDU oder des Konservativismus weiß man wenig. (…) Doch was kümmert die Journalisten die langfristige Wohlfahrt der CDU? Es ist doch schön, wenn die Union endlich auch ein bisschen in die große neue konturlose Mitte rückt, wo alles so modern und behaglich ist“ (Ab in die Mitte, Die ZEIT (11), 2000).

Eine Partei als One-Woman-Show

In den folgenden Jahren führte Merkel die Partei nicht nur in jene Mitte, sie machte diesen Sammelplatz vager Versprechungen und nebulöser Möglichkeiten zum Programm. Stürzten in den 90er Jahren ihre politischen Weggefährten – wie etwa Wolfgang Schnur oder Günther Krause – noch selbstverschuldet ab und musste sie im Fall Helmut Kohls lediglich zum Fangschuss ansetzen, ging Merkel nun offensiver gegen jene vor, die den Weg in die Konturlosigkeit nicht mittragen wollten. Beispielhaft hierfür ist die Schritt für Schritt vorgenommene Zerschlagung des so genannten Andenpakts. In einer Whisky-Laune auf einem Nachtflug von Caracas nach Santiago de Chile im Juli 1979 unterzeichneten zwölf junge Männer einer Delegation der Jungen Union ein eilig zusammengeschriebenes Manifest. Sie schworen niemals gegeneinander zu kandidieren und in Krisenzeiten beisammen zu stehen. Sowohl Gründungsmitglieder wie Franz-Josef Jung als auch andere CDU-Politiker, die in den folgenden Jahren mit dem geheimen Männerbündnis assoziiert waren – wie Christian Wulff, Roland Koch oder auch Friedrich Merz – sind heute entweder politisch lahmgelegt oder haben dem Betrieb vollends den Rücken gekehrt. In manchen Fällen spielte sicher auch eigenes Unvermögen eine Rolle, dennoch darf Merkels Part nicht unterschätzt werden. Der Vorwurf, den die Herren immer wieder – in aller Arroganz und Selbstgerechtigkeit – durchschimmern ließen, ihre christdemokratischen Positionen seien lediglich angelernt, traf sie wohl vor allem deshalb so stark, weil er nicht an der Wahrheit vorbeizielte. Merkel kennt keine Überzeugungen, sondern allein Möglichkeiten und diese nutzte sie in der Folge, wann immer sie sich ergaben. Zunächst schnappte sie Merz den Posten des Fraktionsvorsitzenden weg, ehe sie zur Bundestagswahl 2005 Roland Koch als Spitzenkandidat der Union ausstach. Vor diesem Hintergrund kann ihr Rückhalt für Christian Wullf bei der Wahl zum Bundespräsidenten fast schon als kalkulierte Demütigung verstanden werden; ganz so, als hätte sie gewusst, dass sich dieser mit seinen kleingeistigen Verhaltensmustern von alleine aus dem Amt katapultieren würde. Schließlich drängte Merkel auf einem Parteitag im Herbst 2010 die letzten Reste des Andenpaktes aus der Parteiführung. Obgleich sich die Mitglieder heute gelegentlich noch treffen sollen, ist ihr Bündnis von Merkel auf die Ebene einer spätpubertären Phantasterei zurückgestutzt worden, von der es einst seinen Ausgang genommen hatte.

Ihre Vorgehensweise hat die Partei innerlich geschwächt; es gibt keine starke Figur, die neben Merkel existiert. Es gibt auch kein Aufbegehren, das nach außen dringt. Die Konturlosigkeit ihrer Politik hat längst auch die Partei infiziert. Die CDU ist ein hermetisches, konturloses Gebilde, das von der Kanzlerin abgeriegelt und in seinem Nichts und zugleich Alles sagenden Zustand verwaltet wird. Das galt auch für die – vergleichsweise stürmische – Zeit nach dem Sommer 2015, als Merkel sich (endlich) einmal hervorwagte, eine klare Haltung erkennen ließ, die dem „C“ im Namen ihrer Partei zu lange ungekannten Ehren reichte. Mehr als ein dumpfes Grollen allerdings war aus der CDU nicht zu hören, wohl auch weil die Schwesterpartei die ungewöhnliche Situation einer exponierten Kanzlerin nutzte, um dieser eine Watschn nach der anderen zu verpassen. Doch was wäre so verwerflich an einer offen ausgetragenen innerparteilichen Debatte über die Flüchtlinge (um die es Horst Seehofer und Konsorten selbstredend nicht ging)? Diese Debatte gibt es bei den Grünen, bei den Linken, auch bei den Sozialdemokraten, nur in der CDU herrscht die Omertà. Wer Diskussion mit Führungsschwäche verwechselt, hat die Demokratie nicht verstanden. Mittlerweile hat die Kanzlerin die Rolle rückwärts vollzogen; ihre Haltung ist am Widerstand zerschellt. Dass dieser Mangel an aufrechtem Gang am Ende der Kanzlerschaft Merkel zu einer schweren Hypothek für die Partei werden könnte, registrieren vor allem jüngere CDU-Abgeordnete. So sprach etwa der Vorsitzende der parteieigenen Mittelstandsorganisation, Carsten Linnemann, bereits vor der Verschärfung der Flüchtlingssituation von einer großen Sehnsucht nach „Debatte und Zukunft“ (Hildebrand, Tina/Geis, Matthias, Nach Diktat vergreist, in: Die ZEIT (26), 2014, S. 6).

Wie stark Merkels Machtposition innerhalb ihrer Partei ist, zeigt sich am deutlichsten an der gespenstischen Stille, die um sie herum herrscht. Um jemanden, der sich seine Position erst noch erkämpfen oder sie verteidigen muss, lärmt es. Unterstützer müssen gefunden werden; in Reden muss gepoltert und der politische Gegner attackiert werden. „Nur die absolute Macht bedarf keiner akustischen Signale mehr, um sich bemerkbar zu machen. Eher im Gegenteil – sie ist anwesend in ihrer akustischen Abwesenheit“ (Liessmann, Konrad Paul, Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, Wien 2012, S. 151). In einer solchen paradox erscheinenden Anwesenheit in Abwesenheit ist der Herrschende überall zugleich. So lugt bei jeder Rede, jeder Stellungnahme und jeder Entscheidung eines CDU-Politikers die Halbgöttin im Hosenanzug über die Schulter, auf dass ihr Wille nicht hintergangen und ihr stiller Zorn nicht geschürt werde.

Angela Merkel
„Nur die absolute Macht bedarf keiner akustischen Signale mehr, um sich bemerkbar zu machen“ (Liessmann) – um die Kanzlerin ist es ganz still. Lizenz: CC by 2.0, Rechteinhaber: eppofficial, Original: Angela Merkel 2016.jpg

Für die anderen Parteien bringt Merkels Stil, Politik zu betreiben, gewichtige Probleme. Vor allem bei der SPD und bei den Grünen wird man sich oft gefragt haben, wie es sein kann, dass die Kanzlerin sich Positionen einverleiben kann, die ihren Ursprung in den Programmen fremder Parteien haben und eigentlich die Basis der CDU in Aufruhr bringen müssten. „Regieren bedeutet für die CDU nun schon in der dritten Legislaturperiode in Folge, Dinge durchsetzen zu müssen, die mit ihren originären Vorstellungen nichts mehr zu tun haben“ (Hildebrand/Geis, Nach Diktat vergreist). Die Formulierung ist entlarvend: Die Partei muss Dinge umsetzten, sie wird also von jemandem getrieben, bei dem es sich um niemand anderen als die eigene Vorsitzende handelt. Die gestellte Diagnose gilt für die Bankenverstaatlichung, den Atomausstieg, die Quotenregelung als auch für den Mindestlohn. In der Partei lehnt sich jedoch niemand gegen die übermächtige Chefin auf. Merkel ist die CDU, ihr konturloser Schlingerkurs ist der Kurs der Partei. Die Bürger, vor allem diejenigen aus dem konservativen Lager, bleiben derweil orientierungslos zurück. Mit jedem Jahr unter der Regierungschefin Merkel wurden sie empfänglicher für eine Partei wie die AfD, die zwar nicht sagt, was ist, stattdessen vornehmlich Unwahrheiten aneinanderreiht – dies allerdings mit klarer Kante und einem eindeutigen Adressaten.

Eine entkernte Sprache

Es lohnt an dieser Stelle, einen Satz Ernst Blochs für die Gegenwart dienstbar zu machen: Der Lump von rechts meint nie die Sache, von der er spricht, doch spricht er zu den Menschen (vgl. Bloch, Ernst, Deutschfrommes Verbot der Kunstkritik, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1965). Auch Angela Merkel meint selten die Sache, von der sie spricht; zudem spricht sie immerzu an den Menschen vorbei, nicht aus Unvermögen, sondern aus Kalkül. Präziser als Roger Willemsen wird man diesen Zug der Rednerin Merkel nicht beschreiben können – er notiert zu einer ihrer Neujahrsansprachen: „Steif und fern, wie sie da sitzt, wirkt sie nicht, als müsse sie mir dringend etwas sagen. Eine Mediengesellschaft sollen wir sein, wählen Menschen mit dem Privileg, zum Volk zu reden – und dann reden sie so?“ Über einen ihrer Auftritte im Bundestag vermerkt er: „Sie sieht (…) kein Gegenüber (…) und sie spricht dezidiert unambitioniert, wie eine, in der die Sprache kein Zuhause hat“ (Willemsen, Roger, Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 5, 299).

Die Worte sind bei Merkel nur als leere Hüllen heimisch, nicht als Trägerinnen von Ideen. Ihr Fehlen macht die nüchtern-leierhafte Rede im Verwaltungssprech der Beamten fast schon zwangsläufig. An Gedanken, die von echter Zukunft handeln, könnte sich schließlich die Rede entzünden, die Jugend zum Engagement mitgerissen, das Alter zum besserwisserischen Widerspruch animiert werden (beides kann wertvoll sein). Dies geht der Kanzlerin vollkommen ab; es ist ihr suspekt. Stattdessen trocknet sie mit Floskeln und vorgestanzten Phrasen die demokratische Debatte aus: Seit Jahren schon wird sie nicht müde zu betonen, man werde stärker aus den vielen Krisen herauskommen als man hineingegangen sei; wie ein Mantra beschwört sie den Zusammenhalt – in Deutschland, in Europa sowieso, auch in der Welt –, ohne zu verraten, was sie dafür zu tun gedenkt; immerzu möchte sie zum Fortdauern der sozialen Marktwirtschaft und des Rechtsstaates beitragen, während sie zeitgleich die fortgesetzten Attacken auf beide (etwa von Seiten der Finanzwirtschaft und der Geheimdienste) tatenlos geschehen lässt. Merkel spuckt diese Phrasen so lange aus, bis auch der Letzte an ihre Rede keinerlei Erwartungen mehr knüpft. In einer derart ausgetrockneten Debattenkultur ist es für die Populisten umso leichter die Menschen für die falsche Sache zu entzünden.

Der rasante Aufstieg der AfD dürfte Merkel unvorbereitet getroffen haben. Wenn weiter oben ihrem inspirationslosem Politikstil Kalkül unterstellt wurde, dann meint dies die Einrichtung der Krise als Dauerzustand, um sich selber als Stabilitätsanker verkaufen zu können. Die wirklich gravierenden Probleme sind unter der Kanzlerin Merkel nicht gelöst worden: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst weiter, die Geheimdienste scheren sich immer noch nicht um die Grundrechte der Bürger, die Ketten für die Finanzmärkte sind nicht einmal geschmiedet, geschweige denn angelegt worden, die Steueroasen blühen wie nie zuvor und der Süden Europas darbt mittlerweile im siebten Jahr. Merkels Politik fördert das stete Weiterköcheln der Krisen; so wird die Furcht der Menschen vor einschneidenden Veränderungen am Leben erhalten, um – so scheint es – alle vier Jahre auf den Reflex setzen zu können, dass sich der Wähler in unsicheren Zeiten an das Vertraute klammert. Es funktioniert, auch weil SPD und FDP in Koalitionen verzwergten (und sich zusätzlich selber demontierten), an der Linken für viele Wähler weiterhin zu viel DDR haftet und die Grünen sich in ausufernder Selbstbeschäftigung selber lähmten. Dass sich jemand anschicken würde, die brachliegenden Felder mit giftigen Parolen zu bestellen, mag Merkel noch einkalkuliert haben. Dass dies bei so vielen ihrer Landsleute verfängt, schon weniger.

Auch wird sie vielleicht überrascht haben, dass viele Menschen in diesem Land zu aufrichtigem Hass auf Politiker im Allgemeinen und auf sie persönlich im Besonderen fähig sind. Das kann abgetan werden mit dem Hinweis, dass Merkel nun einmal die erste Frau im Staat sei und sich deshalb an ihr ein Großteil des Zornes entlade. An dieser Stelle soll eine andere, gewagtere Erklärung versucht werden. Sie bedarf eines kleinen Umwegs: In ihren Untersuchungen zur Frage, warum in der europäischen Geschichte immer wieder die Juden Opfer von Verfolgung und Massenmord wurden, nennt Hannah Arendt die Funktionslosigkeit von Macht als eine mögliche Ursache. Viele Juden waren als erfolgreiche Geschäftsleute in Positionen, die viele Menschen mit großen Einflussmöglichkeiten auf gesellschaftliche Prozesse verknüpften. In der Regel jedoch ließen die Juden diese Möglichkeiten fahren; sie gingen ihren Geschäften nach und lebten ansonsten im Privaten. Diese Kluft nun zwischen Vorstellung und Wirklichkeit hat laut Arendt die intellektuelle Verdauung vieler Menschen bereits überfordert. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Macht einfach brach liegen, funktionslos bleiben sollte, weshalb sie die Einflussnahme der Juden kurzweg ins Verborgene verlagerten. So gelangte die jüdische Verschwörung in die Welt, die häufig als Legitimation für Gewalt und Verfolgung herhielt. Vielleicht ist es exakt dieser Mechanismus, der Verzicht auf Gestaltung und Sichtbarkeit durch Angela Merkel, der dazu beiträgt, dass manche Bürger von einem Parteienkartell fabulieren, an dessen Spitze sie die Kanzlerin vermuten. Diese Verschwörungsphantasie bietet eine ungemeine Entlastung von der unbestimmten, konturlosen Wirklichkeit, die Merkels Politik geschaffen hat. Eine Phantasie bleibt sie dennoch. Nicht die klandestine Absprache ist ihre Sache, sondern das ziellose Dahintreiben: Weder verteilt sie Zuckerbrot noch ist sie mit der Peitsche unterwegs – beides würde eine Verbindung zu den Menschen herstellen, Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung liefern. Stattdessen folgt sie den vermeintlichen Alternativlosigkeiten der Wirklichkeit, die tatsächlich nichts anderes als die Interessen Dritter sind.

Wenn die Bürger nur mehr ihre eigene Ohnmacht in den Politikern gespiegelt sehen, wenn auch die Volksvertreter als Getriebene höherer, irgendwie nebulöser Mächte erscheinen und sich auf die Rolle als Schadensbegrenzer degradieren lassen, dann sind die falschen Erlöser nicht mehr weit. Es macht derzeit den Eindruck, als könnte Merkels Weiter-So im Unbestimmten ernsthaft von denen gefährdet werden, die Zuflucht (und Zukunft) in einer Vergangenheit suchen, die es nie gegeben hat. Den direkten Übergang vom Dämmerzustand in einen Alptraum wird die Demokratie in Deutschland im nächsten Jahr wohl nicht vollziehen. Doch ein Aufwachen ist zu wünschen, was nur mit einer Union in der Opposition gelänge – befreit von der Regierungs- und Parteichefin Angela Merkel. Erst dann ließe sich wieder konservative Politik in klarer Abgrenzung zu den anderen Parteien machen. Die Kanzlerin Merkel wäre dann Geschichte, sie würde vier Jahre kürzer regiert haben als ihr Förderer Kohl; bis zur Pharaonin Hatschepsut fehlten ihr gar noch einige Jahre mehr. Diese herrschte knapp zwei Jahrzehnte, in denen die Historiker dem Altägyptischen Reich eine Blütephase attestieren – ein Urteil, das auf Merkels (bisherige) Regierungszeit nur schwer übertragbar ist.

2 Gedanken zu “Eine Pharaonin aus der Uckermark

  1. Hallo,

    vielleicht sind alle Politiker und hohe Eliten von den Ägyptern die nachfahren.In der Schweiz gibt es ein hohen Anteil in der Bevölkerung mit Genen der Ägypter.Die Schätze wurden auch nach Europa und den USA gebracht.Am Weissen Haus gibt es ein Obelisken.Politik ist nur ein mittel uns dumm zu halten.Kriege, Weltwirthschaft,Katastrophen und Krankheiten alles inzeniert.Wie werden hier voll verarscht.

    Gratuliere für deine gute beobachtung.Gruss Chris

    1. Hallo Chris,

      ich bin mir nicht ganz sicher, wie ernst der Kommentar gemeint ist. Sollte sich die Gratulation am Ende allerdings tatsächlich auf die vermeintlichen Beobachtungen meinerseits beziehen, dass Politik nur der Verdummung der Menschen dient, dass Kriege und Krankheiten nur inszeniert sind (wobei es mir ein Rätsel ist, wie ich mir die Inszenierung letzterer vorstellen soll) und dass wir ohnehin alle „voll verarscht“ werden, dann muss ich diese Gratulation leider ausschlagen. Denn ich denke, dass all dies nicht den Tatsachen entspricht und mein Text derlei Pauschalisierungen auch nicht nahelegt (geschweige denn explizit thematisiert).

      Grüße Theo

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