Dem Werbesprech einer Ankündigung auf SPIEGEL Online entgleitet ein wenig die Realität: Es geht um die Berichterstattung zur Präsidentschaftswahl in den USA und man versteigt sich tatsächlich zur Aussage, dieses gedehnte Elend sei der spannendste Wahlkampf seit Al Gore gegen George W. Bush. Viele Adjektive hätten gepasst – abstoßend, niederträchtig, niveaulos – „spannend“ (dazu noch im Superlativ) trifft die Wirklichkeit, wenn überhaupt, nur am Rande. Weiterhin möchte man erhellen, „für welche konkreten politischen Positionen die beiden Kandidaten stehen“. In dieser Hinsicht gibt es ganz bestimmt Nachholbedarf, nur drängt sich die Frage auf, für wie viel Aufklärung wenige Tage vor der Wahl noch gesorgt werden kann. Und was hat man eigentlich in den vergangenen neun Monaten getan? Die Antwort führt zu dem zurück, was man bei SPIEGEL Online augenscheinlich unter Spannung versteht: Trump beleidigt eine Schönheitskönigin, Trump beleidigt einen Richter, Trump macht sich über Behinderte lustig, Trump hält seine Steuererklärung zurück, Trump bezahlt seine Rechnungen nicht, Trump beleidigt eine TV-Moderatorin, Trump versöhnt sich öffentlichkeitswirksam mit derselben Moderatorin, Trump möchte Frauen an den Genitalien ‘rumspielen und als ewigtönender Evergreen: Trump beleidigt Latinos und Muslime. Dazwischen, um zumindest ein wenig die Balance halten zu können: Clinton und ihre E-Mails, Clinton und ihre Wall-Street-Vorträge, Clinton und ihr promiskuitiver Ehemann. Es macht den Anschein, als sei im amerikanischen Wahlkampf eine Entwicklung, die vor einiger Zeit in Gang gesetzt wurde, an ihr Ende gekommen: Journalisten berichten nicht mehr, weil etwas geschehen ist, sondern es geschieht etwas, weil darüber berichtet wird. Der Kandidat Trump wäre wohl undenkbar, könnte er sich nicht darauf verlassen, dass jede seiner Geschmacklosigkeiten ein breites mediales Echo erfährt.
Nun ist nicht alle Schuld beim Medium abzuladen. Mag zwar insbesondere das Internet aktivierend auf eine bestimmte Sorte Politiker wirken, die Aussagen Trumps müssen dennoch zunächst einmal fallen, Clintons Handlungen geschehen, bevor über sie berichtet werden kann. Es existiert in dieser Hinsicht ein Wechselspiel, in dem die Rolle der Politik ebenso unrühmlich ist wie die der Medien. Die hingeschleuderte Beleidigung garantiert Aufmerksamkeit, weil sie den Redaktionen leicht aufzubereitende Häppchen für den nach Simplifizierungen geifernden Teil der Leser- und Zuschauerschaft liefert. Letztlich ist hier ein riesiges Entlastungswerk in Gang gesetzt worden: Wenn Politik nur mehr das Persönliche, das Dramatische und Theatralische ist, dann sind Wähler wie Volksvertreter vom mühseligen Gang durch die Sachfragen befreit. Hierin verbirgt sich im Übrigen auch eine Antwort auf die Frage, wie aus der Präsidentschaft der Versöhnungsfigur Obama eine derartige Schlammschlacht um die Nachfolge im Weißen Haus entstehen konnte (eine Tatsache, die einem durchaus paradox erscheinen kann). Konzentrierte sich nicht auch schon 2008 der größte Teil der Aufmerksamkeit auf die Person Obamas, auf seine Hautfarbe, den einnehmenden Charakter, die wundervolle Familie und den Schlachtruf „Yes we can“? Was der Präsident alles nicht konnte, zeigten dann die folgenden acht Jahre. Enttäuscht kann darüber nur derjenige sein, der die im Wahlkampf geschürte Illusion, bei Politik innerhalb einer Demokratie würde es sich um eine Art One-Man-Show handeln, gänzlich geschluckt hat.
Von dieser Illusion ist es gedanklich kein weiter Weg mehr bis zur starken Hand, die alles Gesagte eins zu eins umsetzen soll. Ein solches Verständnis von Politik beschwört Donald Trump – und nicht wenige Amerikaner scheinen einen autoritären Macher herbeizusehnen. Mit der Demokratie ist dies selbstredend nicht mehr vereinbar, ist diese doch auf Kompromissen gegründet. Wenn Trump immer wieder den Vorwurf äußert, Clinton sei jahrelang Senatorin gewesen und nichts habe sie geändert, dann übergeht er genau diesen Wesenskern der Demokratie. Ganz so, als sei ein Mandat im Kongress das Ticket zur Alleinherrschaft. Was bisher nach jeder Wahl als ritualisiertes Trugbild zerplatzen musste, könnte unter einem Präsidenten Trump verwirklicht werden. Die Medien hätten besser daran getan, am Abbau dieser Illusion mitzuwirken, anstatt sie immer weiter zu befeuern.
Zu entkommen ist ihr letztlich nur mit Rückzug, den die Medien aus wirtschaftlichen Gründen nicht antreten werden. An dieser Stelle lohnt ein kurzes thematisches Abschweifen: In einem gleichermaßen entlarvenden wie ernüchternden Text versucht sich Jochen Wegner auf ZEIT Online aus diesem Dilemma herauszuwinden. Es geht um die Berichterstattung rund um die jüngsten Terroranschläge und Amokläufe, um eilig online gestellte Meldungen, die nur vage Inhalte liefern, um die Einrichtung von Livetickern, in denen vor allem Gerüchte gestreut werden. Um es möglichst kurz zu machen: Wegners Gedanken sind nur wenig tragfähig: So ist etwa sein Argument, die ZEIT-Online-Redaktion würde scheinheilig handeln, verzichtete sie bei Terrorlagen auf einen minutenaktuellen Liveticker, da andere Redaktionen sich dieses Instruments schließlich dennoch bedienen würden, nicht überzeugend. Dass das Falsche der anderen selbst ausgeführt nicht richtig wird, lernt man für gewöhnlich schon in jungen Jahren. Wegner dient dieser Gedankengang dennoch als Fundament für folgende Schlussfolgerung: „Die Möglichkeit, sofort berichten zu können, schließt die Verpflichtung ein, es zu tun.“ Ein sentenzartiger Satz, der fast wie ein moralisches Prinzip daherkommt, tatsächlich jedoch vom Einzelfall abhängt. Mag es richtig sein, dass etwa die Möglichkeit, Erste Hilfe zu leisten, die Verpflichtung einschließt, dies auch zu tun, so sieht die Sache beim Raub oder bei der Körperverletzung schon ganz anders aus. Gleiches gilt für die Möglichkeit zur Berichterstattung in Echtzeit. Es führt kein Weg vom Ausklinken aus dem Liveticker in die Scheinheiligkeit. Letztlich kann Wegners wortreicher Beitrag auf den Satz gebracht werden: Alle machen es (und verdienen daran), also müssen wir es auch machen. Exakt dieses Prinzip beherrscht den Journalismus nicht nur in der Ausnahmesituation eines Terroranschlags oder Amoklaufs, sondern diktiert den Reportern auch jene Artikel in den Schreibblock, in denen die gesamte Politik auf persönliche Dramen zusammengekürzt wird.
Konnte bis hierhin so recht keine Entlastung herbeigeführt werden, ist noch der Versuch denkbar, den Medien von anderer Seite beizuspringen: Denn einige der oben genannten Possen berühren zweifellos das Politische. Ein Präsidentschaftskandidat, der diskriminiert, beleidigt, pöbelt, höhnt, sollte nicht über Wohl und Wehe von Millionen Menschen entscheiden; ebenso wenig wie eine Kandidatin, die sich den Einflüsterungen des großen Geldes nicht entziehen kann oder Staatsgeheimnisse ähnlich gewissenhaft behandelt wie ihren Einkaufszettel. Über diese Dinge muss natürlich berichtet werden, gerne auch ausführlich, insbesondere wenn es um die USA geht, wo auf die Person des Präsidenten wesentlich mehr Macht vereint ist als in europäischen Ländern; nur irgendwann gilt es, den Bogen von der Person zurückzuschlagen zur sachlichen Auseinandersetzung. Wenn eine der zentralen Aufgaben der Medien die Herstellung von Öffentlichkeit ist, dann sollten innerhalb dieser Öffentlichkeit doch möglichst Fragen diskutiert werden, die viele Menschen betreffen. Eine derartige Rückkehr zum Sachlichen wäre in vielen Fällen möglich gewesen, ist jedoch zu selten geschehen. Zwei Beispiele: Im Falle von Trumps Steuererklärung ist doch der Skandal nicht, dass diese von ihm ewig zurückgehalten wurde, sondern die Tatsache, dass ein geltend gemachter Millionenverlust Geschäftsleute auf Jahrzehnte von nahezu jeder Steuerzahlung befreien kann – ganz im Einklang mit dem Gesetz. Hier stinkt es nicht zuerst vom blondierten Schopf des Kandidaten her, sondern aus dem Kern des politischen Systems. Was Trump als smartes Geschäftsgebaren abtut, ist letztlich eine jener Ungerechtigkeiten der Geld- und Machtelite, gegen die (paradoxerweise) die Anhänger des Polit-Clowns am eifrigsten wettern. Ähnlich entrückt vom eigentlichen Problem wirkt die hartnäckige Empörung darüber, dass Clinton als Außenministerin wichtige E-Mails über einen privaten Server empfing und verschickte. Nachdenklich sollte in diesem Zusammenhang nicht so sehr die augenscheinliche Einfalt der Kandidatin in technischen Angelegenheiten stimmen, sondern der Umstand, dass der in den vergangenen knapp fünfzehn Jahren von den USA errichtete Abhör- und Spionageapparat, der vor kaum einem Grundrecht Halt machte, offensichtlich nicht in der Lage ist, eine Sicherheitslücke aufzuspüren, die groß wie der Grand Canyon ist und sich dazu noch unmittelbar vor der eigenen Haustür auftut.
Doch zu den Kernen der unzähligen Probleme dringen die Kandidaten nicht vor. Dementsprechend schwer (bis unmöglich) dürfte es für die Redakteure bei SPIEGEL Online werden, den „konkreten politischen Positionen“ der beiden Bewerber auf die Spur zu kommen. Mögen detaillierte Pläne im Falle Clintons noch irgendwo im Regal verstauben, so steht zu befürchten, dass Trump gar keine hat. „Die Scheiße aus dem IS herauszubomben“ taugt ebenso wenig zur realitätskompatiblen Agenda wie seine Ankündigung, mit einem Handstreich alle illegalen Einwanderer aus dem Land schaffen zu wollen. Trump vereint Maximalforderungen mit der Denkfaulheit der Fundamentalopposition: Wenn er für etwas ist, dann gegen jeden Widerstand, alle Gegenargumente übergehend; zugleich ist alles, wofür Clinton steht, des Teufels – auch hier macht er sich die Mühe der Differenzierung nicht. Bei seinen TV-Auftritten und Wahlkampfreden meint man zuweilen einem kleinen Kind in der Trotzphase zuzuhören. Doch anders als beim Heranwachsenden will das Gebrüll Trumps einfach kein Ende nehmen. Im Gegenteil, das Infantile beansprucht mit der Zeit immer größeren Raum: In den Fernsehdebatten tönte bei jedem zweiten Satz Clintons ein in die Länge gezogenes „wrooong“ von Trump im Hintergrund; seine eigenen Redebeiträge drehten sich derweil in den immer gleichen Wiederholungsschleifen („She has bad judgement“, „Her friends on Wall Street…“, „I am going to make the best deals ever“ etc.); schließlich seine Argumentationen, die von denen eines Fünfjährigen kaum zu unterscheiden sind: Glaubt man Trump, dann seien etwa seine frauenverachtenden Aussagen nicht so schlimm, schließlich habe sich doch Bill Clinton gleich an mehreren Damen vergangen – und Hillary mit ihrer scheinbar unerschöpflichen Duldsamkeit sei dabei seine Komplizin gewesen. Ähnliche Nebelkerzen entzündet Trump vor seinen Steuertricksereien, wenn er schlicht entgegnet, Hillarys Freunde an der Wall Street würden es doch genauso machen.
Dass ein solch bösartiger, skrupelloser, undemokratischer Simpel im Rennen um die Präsidentschaft derart weit gekommen ist, hat schon jetzt einen Schaden an der Demokratie angerichtet, der nicht von heute auf morgen zu beheben sein wird. Vielleicht ist Trump aber auch nur ein Symptom, und die Ursache des momentanen Desasters ist beim politischen Familienbusiness der Clintons zu suchen, bei ihrem aberwitzigen Vermögen, das sie auch durch ihre öffentlichen Ämter anhäufen konnten, allgemeiner bei der Drehtürpolitik in Washington, bei den ritualisierten Versprechen, die leerer nicht mehr werden können. Anders gefragt: Wie satt müssen die Amerikaner ihr politisches System haben, wie wenig muss ihnen ihre Demokratie verteidigungswürdig erscheinen (weil sie ihren Namen längst nicht mehr verdient?), wie viel Verachtung müssen sie für diejenige aufbringen, die dieses System repräsentiert, wenn jemand wie Trump ernsthafte Aussichten auf den Wahlsieg hat?
Wie ist nun den Simplifizierungen, den Emotionalisierungen und Personalisierungen in der öffentlichen Auseinandersetzung zu entkommen? Wie kann verhindert werden, dass sich Medien und Politiker in dieser Hinsicht noch weiter anstacheln? Vor allem auf den Wähler, der zugleich Leser und Zuschauer ist, sollte hier die Hoffnung gesetzt werden. Er ist in dem, was er rezipiert, weder dem wirtschaftlichen Zwang ausgesetzt, der auf dem Journalisten lastet, noch dem Zwang, sichtbar und im Gespräch zu sein, der den Politiker bedrängt. Abstand zu gewinnen, sollte die Losung der Stunde sein – vom eilig zusammengeschriebenen Text, vom nichtssagenden Liveticker, von den Beleidigungsschlachten auf Twitter, von den persönlichen Angriffen im TV-Studio. So werden zwar die Clintons dieser Welt nicht verschwinden, aber zumindest die Trumps werden auf ein erträgliches Maß zusammenschrumpfen. Ein Anfang kann gleich in der Wahlnacht gemacht werden, denn natürlich haben sie bei SPIEGEL Online im oben erwähnten Text auch angekündigt, die „dramatischen Stunden der Auszählung“ begleiten zu wollen. Was hier den Namen Drama trägt, wird das zähe Hineintröpfeln der Wahlergebnisse in den Liveticker sein, aufgefüllt mit langen Dürren der Nicht-Information. Und dazwischen twittert „The Donald“ entweder sein glücksbesoffenes Triumphgeschrei oder sein Misstrauen am Wahlergebnis in die Welt hinaus.