Es gibt den reichlich abgewetzten Lenin-Satz, mit den Deutschen sei keine Revolution zu machen, denn bei Stürmung des Bahnhofs würden diese sich noch schnell eine Bahnsteigkarte kaufen. Als wolle er diese Halbherzigkeit seiner Landsleute bestätigen, fängt SPIEGEL-Redakteur Bernd Kramer seine „Rebellion“ (tatsächlich ist es mehr ein Rebelliönchen) damit an, in der ersten Klasse der Deutschen Bahn die Zeitungen zu stibitzen. Mit dieser Anekdote setzt ein Kommentar Kramers („Schafft die erste Klasse ab!“) ein, in dem der Journalist sich über die Existenz verschiedener Klassen in deutschen Zügen empört. Die Teilung nach Besitzverhältnisse ärgert ihn; noch mehr Zorn widerfährt dem Umstand, dass die Menschen dies schweigend erdulden. Was ein Glück also, dass es die Kramer’sche Symptombekämpfung gibt! So macht es jeder Scharlatan: Die Anzeichen behandeln, ohne die Krankheit beim Namen zu nennen (vielleicht auch: nennen zu können). Wie sonst ist die in ihrer Naivität fast schon anrührende – weil so einfach zu beantwortende – Frage zu erklären, die am Anfang des Textes steht: „In was für einer Zeit lebt der Konzern [die Deutsche Bahn] eigentlich?“ Ja, in was für einer Zeit? In der unsrigen natürlich, in der eines freidrehenden Kapitalismus, in der von Ungerechtigkeit und Ungleichheit – kurz, in der Zeit zunehmend zementierter Klassenunterschiede.
Laut Kramer ist es nicht Aufgabe eines Staates, in dem wohlgemerkt der Kapitalismus heimisch ist, „Klassendenken“ zu befördern. Mit ein wenig Böswilligkeit kann darin ein Appell zur staatlichen Unaufrichtigkeit erkannt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der hintere Teil des von Kramer genutzten Kompositums: Nicht an der Existenz von Klassen stört sich der Autor, sondern daran, dass die Menschen sich dieser bewusst werden, dass sie an die Klassen denken. In Verknüpfung mit Kramers Forderung, die erste Klasse abzuschaffen, zeigt sich hier Gesellschaftskritik nach der Vogel-Strauß-Methode: Was ich nicht wahrnehme, existiert auch nicht. Müßig zu erwähnen, dass dies weder für das liebe Federvieh noch für den SPIEGEL-Redakteur – und all jene, die sich ihm anschließen – korrekt ist.
Es hat einmal einen Deutschen gegeben, auf den traf Lenins Ausspruch vom revolutionären Analphabeten bestimmt nicht zu. Auch von diesem nun ein reichlich abgewetztes Zitat: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Es ist gewiss zu viel der Ehre, aber Kramer trudelt mit seinem Kommentar auf der Zeitleiste weit hinter Marx zurück, denn für ihn scheint exakt das Gegenteil korrekt zu sein: Wenn man die Klassen nur aus dem Bewusstsein der Menschen verbannt, werden sie sich auch ganz real auflösen. Wer so argumentiert, kann Marx und Konsorten einfach links liegen lassen, betreibt aber eben auch eine Kapitalismuskritik, die weitestgehend ohne Kapitalismus stattfindet. Kramer tut so, als würden sich die Klassen erst im Zugabteil formieren; folglich meint er, sie dort auch eliminieren zu können. Dass die Klassengesellschaft – staubig marxistisch gesprochen – beim Besitztum an den Produktionsmitteln beginnt, dass diese sich auch gegenwärtig in der Hand einiger weniger befinden, dass immer noch gesellschaftliche Produktion und private Aneignung sich unversöhnlich gegenüberstehen, all dies findet in Kramers Empörungsstück konsequenterweise keine Erwähnung.
Nicht nur ist seine Analyse reichlich kurzsichtig, sie ist auch gefährlich. Angenommen man machte Ernst mit der Forderung, der Sichtbarkeit von Klassenunterschieden ein Ende zu setzen: Die Klassen im Zug wären abgeschafft, die im Flugzeug ebenso und die Lounge für die Besserflieger wäre genauso geschlossen wie der Schalter für die Schnellabfertigung. Was wäre nun gewonnen, vorausgesetzt niemand hat zeitgleich an den gesellschaftlichen Verhältnissen gedreht? Die Vermögenden ließen sich fortan chauffieren oder flögen privat; sie wären nicht mehr nur vom Kontostand her entkoppelt vom Rest der Gesellschaft, sondern auch physisch. Zugleich könnten die Wirtschaftswissenschaften eine neue unsichtbare Hand herbeitheoretisieren – diesmal allerdings keine regulierende, sondern eine, die am unteren Ende der Gesellschaft zuverlässig Nackenschläge verteilt. Eine solche Herrschaft, bei der nicht erkennbar ist, von wem und aus welcher Richtung der nächste Schlag geführt wird, würde weit mehr Zorn erzeugen als es zwanzig Zentimeter mehr Beinfreiheit je könnten.
Nun ist nicht alles falsch an Kramers Kommentar; doch wo es richtig wird, betreibt er paradoxerweise Selbstverrat. Zu einem Beispiel führt folgender Satz: „Die Zahl der Wagenklassen war schon immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung.“ Vollkommen richtig, und wer ein bisschen Bescheid weiß über die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte (Polarisierung der Einkommen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Armut trotz Arbeit etc.), der ahnt, dass es in der zweiten Klasse noch weitaus unbequemer zugehen müsste, um eine Spiegelung der gegenwärtigen Verhältnisse auf der Schiene zu erreichen. Eigentlich ist jede Bahnfahrt im Jahr 2016 ein Beschönigungstrip in annähernd egalitäre Zustände. Kramer legt die ersten Meter dieses Gedankengangs zurück, nur um sich im Anschluss der Selbstverdummung preiszugeben. Mit der eingangs zitierten Frage, in was für einer Welt die Deutsche Bahn eigentlich lebe, unterläuft er seine eigenen Ausführungen. Schließlich gibt er doch selber die Antwort: Es ist unsere Welt, gespiegelt im Zugabteil (und dies bereits reichlich weichgezeichnet).
Eine gesonderte Erwähnung verdient der Gewährsmann, den Kramer für seine Einheitsgesellschaft in der Eisenbahn herbeizitiert. Es handelt sich hierbei um den Soziologen Siegfried Landshut, genauer: um dessen Aufsatz „Die Auflösung der Klassengesellschaft“ aus dem Jahr 1956. Schon der Titel sollte einem Warnung genug sein: Der Text kommt – um ihm Thema zu bleiben – ungefähr so antiquiert daher wie eine Dampflok aus dem 19. Jahrhundert im Vergleich mit heutigen Hochgeschwindigkeitszügen. Ausgerechnet die Prognose, mit der (der junge!) Marx ebenso falsch lag wie der gleichfalls erwähnte Alexis de Tocqueville, ist Grundlage für Landshuts Aufsatz – nämlich die der zwangsläufigen Einmündung der Klassengesellschaft in eine egalitäre Gesellschaft. Mag dieser Optimismus in den 50er Jahren noch mehr Legitimation gehabt haben als heute, aus dem Traum ewiger Prosperität in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft sind die Sozialwissenschaften spätestens in den 80er Jahren erwacht. Seither hat die Polarisierung von Einkommen und Vermögen zugenommen, während gleichzeitig die soziale Durchlässigkeit geringer geworden ist. Landshut kann sich zwar auf Marx berufen, wenn er die Existenz von Klassen vor allem (nicht ausschließlich!) an deren Sichtbarkeit, am Vorhandensein eines Klassenbewusstseins festmacht, doch angesichts immer weiter zunehmender Ungleichheit und Ungerechtigkeit bei gleichzeitiger Vernebelung der Klassengrenzen spielt dieses Kriterium eher der Selbsterhaltung des Kapitalismus in die Karten. Nur weil sich heute niemand mehr zum Proletariat zählt, erst recht nicht zum neu entstandenen Dienstleistungsprekariat, heißt dies nicht, dass diese Klassen nicht existieren. Sie sind verschleiert, nicht verschwunden. Da kann noch so oft eingeworfen werden – wie es Landshut in seinem Aufsatz tut –, dass der Generaldirektor mittlerweile am Wochenende ebenso ins Stadion geht wie der Arbeiter. (Der schlechte Scherz vom Klassenbewusstsein als Kernkriterium geistert seit ewigen Zeiten durch die amerikanische Geschichte: Die USA seien ein Land ohne Klassen, weil sich selbst die Geringverdiener mit drei Jobs noch zum Mittelstand zählen.)
Man sieht, Kramer flötet die Melodie der Sozialwissenschaften der 50er Jahre nach, die mit der Realität anno 2016 kaum mehr etwas zu tun hat. Dass die Menschen mit Gleichheit und Gerechtigkeit nicht viel am Hut haben wollen, verrät auch ein Blick in den Kommentarbereich unterhalb des Artikels. Die Verteidigungen der Klassenunterschiede in der Eisenbahn sind fadenscheinig bis geschmacklos. Eine Auswahl: Ich will meinen Kaffee gebracht bekommen; ich will mehr Beinfreiheit; ich werd‘ mir doch wohl noch ‘was gönnen dürfen; ich will meine Ruhe (zumeist um Arbeiten zu können); Klassen gibt es überall, warum sollten sie ausgerechnet vor dem Zug Halt machen; ich bin für Vielfalt, deshalb soll es Unterschiede geben; schließlich das Highlight, geliefert von einer Dame: Aufgrund der „Sozialauswahl“ fühle ich mich in der ersten Klasse sicherer. Wer an dieser Stelle nicht erst einmal schlucken muss, dem ist wohl nicht mehr zu helfen. Zeigt sich hier doch, wie weit es der Kapitalismus schon geschafft hat – manchen diktiert er bereits die moralischen Maßstäbe: Die armen Menschen sind zugleich die schlechten, die reichen dagegen die guten. Den anderen sei gesagt: Auch wenn es einem vielleicht so erscheint, der Kapitalismus ist kein Naturgesetz; die eingeforderte Vielfalt bedeutet mittlerweile, dass sich viele Mitbürger das Bahnfahren überhaupt nicht mehr leisten können; auch in der zweiten Klasse werden Getränke und Snacks zuweilen an den Platz gebracht; und wer es gerne leise hat, für den gibt es in vielen Zügen Ruheabteile (die auch der Workaholic nutzen darf).
Doch jede Verteidigung unter dem Artikel wäre sinnlos, weil die meisten Kommentare den Knochen im Mund führen, den Kramer ihnen hingeworfen hat – sie arbeiten sich am Symptom ab. Erleichtert wird dies noch durch die bereits im Artikeltitel vorgebrachte Forderung: „Schafft die erste Klasse ab!“ Kramer liefert all denen Munition, die für mehr Gerechtigkeit plädierenden Menschen vorwerfen, alle Welt in Kargheit und Gleichmacherei zwingen zu wollen. Das Gegenteil ist richtig: Wer es ernst meint mit einer sozialeren Gesellschaft, der sieht in Zukunft alle Menschen bequem und zu einem moderaten Preis reisen. Wer also die Probleme bei der Wurzel packen will, anstatt wie Kramer Symptome zu bekämpfen, für den müsste es heißen: Schafft die zweite Klasse ab!