Wenn es um Flüchtlinge geht, beherrschen die Ausfransungen des Meinungsspektrums die Debatte. Unfähig zum Austausch stehen die Extreme einander gegenüber und vergiften mit ihrem Anspruch auf eine uneingeschränkte Deutungshoheit die Auseinandersetzung. Es werden absolute Bekenntnisse eingefordert: Offene Grenzen oder Zäune und Schlagbäume. Jeder Versuch der Differenzierung wird vom Zeitgeist des Absoluten weggebissen. Lehnt sich ein Argument auch nur sachte in die eine oder andere Richtung, so wird es vom Extrem vereinnahmt, sein Vertreter fortan mit diesem identifiziert. So geschieht es in den Parteien, so findet es dank bürgerlichen Nachahmungstriebs online seine Fortsetzung. Dem Wesen der Solidarität, die eine funktionierende Asylpolitik tragen muss, setzt eine Debatte in und mit Extremen zu. Ist sie, die Solidarität, doch in einem ‚Zwischen‘ angesiedelt, so erklärt es der Soziologe Karl Otto Hondrich – und zwar zwischen der Liebe und dem Vertrag.

„Wo die Liebe hinfällt…“, so seufzt der Volksmund, „da kann man nichts machen“. Der Liebende hat keine Wahl, er hat sich nicht bewusst entschieden. Bei der Solidarität ist dies anders. Sie ist flexibel einsetzbar, kann auf verschiedene Gruppen verteilt, wieder entzogen und eingeschränkt werden – muss dies gar, soll sich keine Überforderung einstellen: Wer sich dem weltweiten Leid gegenüber solidarisch verhalten möchte (was mehr ist als die dahergesagte Solidaritätsbekundung), den wird die Traurigkeit nicht mehr loslassen, die Arbeit erst recht nicht. Deren solidarische Form ist die Hilfsleistung – in Gestalt eines Ratschlags, einer helfenden Hand, einer Spende. Die wirtschaftliche Form der Arbeit hingegen ist die Vertragsleistung. Diese ist nicht unausweichliches Schicksal wie die Liebe, allerdings auch nicht stillschweigende Übereinkunft wie die solidarische Handlung. Der Vertrag kennt klar definierte Rechte und Pflichten (in deren Gefolge auch Sanktionen); er bedarf der Unterschrift, die den tonnenschweren Rattenschwanz des Rechts nach sich zieht. Wer auf einen Vertrag besteht, kalkuliert immer auch mit Hinterhalten; es wird vom Gegenüber keine Hilfe erwartet. Der Vertrag bindet Menschen rechtlich stärker aneinander, menschlich hingegen sind sie sich weitaus ferner als im solidarischen Umgang miteinander.

Jede Form des festgeschriebenen Quid pro quo ist der Solidarität fremd, sorgt gar für ihr Verschwinden. Ein kurzer Exkurs: An eine Gruppe von Anwälten in den Vereinigten Staaten ging die Bitte eines Pensionistenverbandes, rechtlichen Beistand für bedürftige Rentner zu leisten. Eine niedrige Entlohnung, weit unter den üblichen Sätzen, wurde hierfür in Aussicht gestellt. Die Anwälte lehnten ab. Als dieselbe Bitte nochmals vorgetragen wurde, diesmal ohne den Obolus, wurde die Hilfe zugesagt. Die Juristen wollten weder einem schlechten Vertrag zustimmen noch den Anschein erwecken, das (moralisch) Richtige aus den falschen Gründen zu tun. Die solidarische Hilfsleistung verträgt die Verquickung mit einer monetären Gegenleistung nicht. „Finanzielle Anreize und andere Marktmechanismen können fehlschlagen, indem sie die Normen ohne Marktbezug [wie z. B. die Solidarität] verdrängen. Bietet man für ein bestimmtes Verhalten eine Belohnung an, bekommt man manchmal weniger statt mehr“ (Sandel, Michael, Was man für Geld nicht kaufen kann, 4. Aufl., Berlin 2012, S. 142 f.).

Wenn es auch keine vertraglich festgeschriebene ist, ganz ohne Gegenleistung geht es dann doch nicht. Wer solidarisch handelt, erwartet mindestens eine freundliche Reaktion. Als im vergangenen Jahr hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen, muss es diese Reaktion in den allermeisten Fällen gegeben haben. Ansonsten hätte sich die Hilfsbereitschaft nicht über Monate auf einem konstant hohen Niveau gehalten. Was ihr spätestens zu Jahresbeginn 2016 zusetzte, war eine Verkürzung der öffentlichen Debatten auf Extrempositionen. Dass die Mehrheit der Menschen im hier beschriebenen Sinne Solidarität zeigten, also weder blinde Liebe an den Tag legten noch den Rechenschieber herausholten und fragten „Was nutzt mir das?“, rückte fortan in den Hintergrund.

Es dominieren seither die schrillen Töne einiger weniger, die solidarisches Handeln entweder ablehnen oder meinen es im Namen des Guten überholt zu haben. Da wird das Grundrecht auf Asyl kurzerhand mit Migration vertauscht, um im Anschluss das Vertragsdenken umfänglich in Anschlag bringen zu können. Es spricht ein 19-jähriger Student, der regelmäßig bei Pegida mitmarschiert (zeitweise an vorderster Front): „Diese Glücksritter-Mentalität [wohlgemerkt der Flüchtlinge!] mag ich nicht. Wenn man was erreichen will, dann muss man sich halt auch anstrengen.“ Und weiter, gewissermaßen als Konklusion: „Die Willkommenskultur sollte nicht bedeuten ‚Wer will, kann kommen‘, sondern ‚Wen wir wollen, der kann kommen'“ (Kix, Martina, Einer von denen, auf: ZEIT Online, 29.09.2016). Ausgerechnet im so nüchtern erscheinenden Kalkül eines Tauschgeschäfts ‚Aufenthalt gegen Arbeit‘ geht alles durcheinander. Das Grundgesetz schafft Klarheit, die beiden vom Studenten genannten Sätze sind ihm fremd. Stattdessen in gebotener Eindeutigkeit: Wer vor Krieg und Verfolgung flüchten muss, darf bleiben.

Die pragmatische Dimension dieses Grundsatzes auszulassen, zeichnet die andere Extremposition aus. Sie kommt im viel bemühten Satz zum Ausdruck, das Asylrecht kenne keine Obergrenzen (den auch die Kanzlerin vor einem Jahr noch im Mund führte). Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass unerschütterlicher Idealismus, so hehr seine Intentionen auch sein mögen, den Umschlag zur Unmoral mitunter nicht registriert. Angenommen Deutschland nähme pro Jahr 15, vielleicht sogar 20 Millionen Flüchtlinge auf. Kein Land der Welt könnte derart viele Menschen vernünftig unterbringen, versorgen, ihnen Sprache und Kultur näherbringen, sie ausbilden und in Lohn und Brot bringen. Vor Parallelgesellschaften müsste die Politik nicht mehr warnen, sie wäre gezwungen, sie selber einzurichten. Zeltstädte nah-östlichen Typs stünden fortan in der Lüneburger Heide, im Ruhrpott und in der brandenburgischen Pampa. Dass Stoff leichter entzündbar ist als Backsteine, ginge wahrscheinlich sogar den rechten Holzköpfen schnell auf. Zeigten sich andere europäische Länder weiterhin ablehnend gegenüber einer Verteilung der Flüchtlinge, würde der moralische Dünkel einiger Deutscher wohl endgültig durch die Decke schießen. Kurzum, in einem solchen Szenario wäre der von Pegida und AfD seit Monaten herbeiphantasierte Kontrollverlust wahrscheinlich Realität. Es müsste eingesehen werden: Auch gute Absichten münden mitunter in schlechte Zustände. Die politische Linke würde in der Folge wohl an sich selber verzweifeln, denn – um dem Text einer Nobelpreisträgerin ein wenig Gewalt anzutun – Mitgefühl „verstrickt sich anders in Schuld als absichtliche Grausamkeit. Tiefer. Und länger.“ (Müller, Herta, Atemschaukel, München 2009, S. 81).

Doch wer einen solchen Abgleich mit der Realität vornimmt, Risiken erkennt und schließlich Bedenken äußert, dem steht ein parteiinterner Spießrutenlauf bevor. So erging es etwa Boris Palmer bei den Grünen, so erging es auch Sahra Wagenknecht bei den Linken. Dass diejenigen, die auf ganz praktische Grenzen hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit hinweisen, noch meilenweit vom AfD-CSU-Sprech einer gesetzlich fixierten Obergrenze entfernt sind, spielt kaum mehr eine Rolle. Sie sängen das Lied der Scharfmacher von rechts, so lautet dann der Vorwurf. Absurd wird diese Anklage durch die absolute Gesinnung, die sie zutage fördert und die sich auch bei der extremen Rechten findet: Es ist alles falsch, was nicht ganz entspricht. Oder noch genauer: Es gehört alles zur Gegenseite, was nicht ganz entspricht.

So entfernt man sich an den Rändern der Debatte von der Realität: Die einen verweigern sich dem Grundgesetz, die anderen der Einsicht in banale Binsenweisheiten; man richtet sich ein in seiner ganz eigenen Welt; die Fronten verhärten sich, indem die immergleichen Schlagwörter hin- und hergeschmettert werden, auch dann wenn es die Umstände überhaupt nicht für angemessen erscheinen lassen: Gutmenschen gegen Nazis, das Pack gegen die Willkommensklatscher und Stoffbärchenwerfer, Political Correctness gegen Verbalradikalismus, Systemmedien gegen Verschwörungstheorien, blindes Multi-Kulti gegen Nationalismus, Angela Merkel, die Kanzlerin des Untergangs, gegen Horst Seehofer, den Retter des Abendlandes. Natürlich gibt es die genannten Ausschläge; mit ihnen muss sich auseinandergesetzt werden. Doch verdient tatsächlich jeder geistige Rülpser der AfD-Führungsriege, bevorzugt ausgestoßen auf Twitter, eine wochenlange Besprechung? Die Medien bieten hier einen Resonanzraum, der es den Vertretern der Extreme erst ermöglicht die gesamte Debatte zu kapern. Auch aufgrund des großen medialen Echos sitzen einige tausend Menschen in Dresden dem Irrtum auf, sie seien das Volk. Dass es hier eine Teilverantwortung ihrerseits gibt, dämmert mittlerweile auch einigen Journalisten: In einem Text aus der jüngsten ZEIT über Donald Trump findet sich ein Satz, der uneingeschränkt auch für die Auseinandersetzung um die Flüchtlinge Gültigkeit besitzt: „Die Welt der ‚postfaktischen Politik‘, vor der die Medien heute warnen, haben sie selbst mit befördert“ (Kohlenberg, Kerstin, Stolpert Trump über seine Steuererklärung, in: Die ZEIT 42 (2016), S. 4). Dies nicht, indem von Zeitungen und Fernsehen Lügen verbreitet wurden, sondern indem den Lügnern zu viel Raum zugestanden wurde.

Wer einzig Unwahrheiten aneinanderreiht, der disqualifiziert sich irgendwann selber für die öffentliche Auseinandersetzung. Gerne kann er oder sie weiter eine Rolle besetzen, aber doch bitte als Spinner am Rand und nicht als Hauptakteur, der die Richtung vorgibt. Die Medien sollten wieder verstärkt denen Beachtung schenken, die sagen, was ist, und an der Lösung vorhandener Probleme arbeiten möchten. Geschieht dies nicht, wird der solidarischen Mehrheit innerhalb der Bevölkerung endgültig die Luft abgeschnürt. Dann ist es irgendwann aus mit Japsen – als erstes Opfer der Grabenkämpfe zwischen links und rechts, zwischen uneingeschränkter Liebe und nüchternem Vertragsdenken, läge die Solidarität auf dem Schlachtfeld der öffentlichen Auseinandersetzung.

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