Idealismus wird zur blinden Schwärmerei, wo dieser den ungetrübten Blick auf die Welt verhindert. Nüchterner Realismus wiederum wird zur Gefahr, wo sich mit allem Schlechten arrangiert, es vielleicht sogar zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. In Fjodor Dostojewskijs „Die Erniedrigten und Beleidigten“ sind dem unverbesserlichem Idealisten und dem skrupellosem Realisten verschiedene Arten Komik beigegeben. Das Lachen hört erst bei den Figuren auf, die beide Eigenschaften miteinander verbinden. Bei ihnen bleibt der Weg zum Schlechten unbetreten und der zum Besseren wird nicht entlanggestolpert, sondern planvoll begangen.

Vor der Entwicklung dieser Gedanken muss das Grundgerüst der Handlung errichtet werden: Nachdem der Gutsverwalter Nikolai Sergejewitsch Ichmeneff aufgrund falscher Anschuldigungen seitens seines Dienstherren, des Fürsten, seine Stellung verliert, geht seine Tochter Natascha ausgerechnet mit dem Sohn des Fürsten, Aljoscha, eine Liebesbeziehung ein. Hierdurch kommt es zu Brüchen innerhalb der Familien: Nataschas Vater fühlt sich hintergangen, Aljoschas sind Armut und Stand der Braut in spe ein Dorn im Auge; er visiert stattdessen eine Heirat seines Sohnes mit Katja an, einer jungen Frau aus einer vermögenden Adelsfamilie. Zunächst willigt er jedoch in die Verbindung zwischen Natascha und Aljoscha ein, da er meint, auf diese Weise sein eigentliches Ziel am elegantesten erreichen zu können. Dieser sanfte Weg ist erfolgreich: Nachdem er sie getroffen hat, verliebt sich Aljoscha auch in Katja und ist fortan hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen. Auf derlei Taktieren legt es Nikolai Sergejewitsch nicht an, er bricht jeden Kontakt zu seiner Tochter Natascha ab. Fortan steht diese nur mehr mittelbar in Verbindung zu ihren Eltern – über ihren Jugendfreund Iwan Petrowitsch, genannt Wanja, einen erfolgreichen, gleichwohl mittellosen Schriftsteller (zugleich der Ich-Erzähler des Romans). In einem zweiten Handlungsstrang läuft eben diesem Petrowitsch die kleine Nelli zu, die sich als eine legitime Tochter des Fürsten entpuppt, allerdings verleugnet von ihrem Vater als Waise durch Petersburg irrt. Für das an dieser Stelle zu Entwickelnde spielt das Mädchen jedoch eine untergeordnete Rolle; ihr Halbbruder Aljoscha dagegen steht im Mittelpunkt.

Aljoschas uneingeschränkte Aufrichtigkeit, gepaart mit einem Beharren auf das Gute in seinen Mitmenschen bringt ihm allenthalben den Ruf ein, noch ein einfältiges Kind, ein „leichtsinniger Knabe“ (Dostojewskij, Fjodor, Die Erniedrigten und Beleidigten, Detmold 1960, S. 229) zu sein. Ausgestoßen aus der Welt der Erwachsenen übt man sich in besonderer Nachsicht ihm gegenüber; seine Gedanken und Handlungen werden nicht ernst genommen, weil ihm unterstellt wird, er könne ihre Folgen ohnehin nicht absehen. Die Abschiebung ins Reich der Infantilität erweist sich hier als einer der schwersten Riegel, die vor die Selbstbestimmung eines Menschen geschoben werden können: Für ein Kind müssen die Erwachsenen sprechen und entscheiden (vgl. S. 103, 285); wenn es um Wichtiges geht, wird es vor die Tür geschickt (vgl. S. 366); seine Rede kann als Geplapper abgetan werden (vgl. S. 63); und seine hohen Ideale müssen sich erst noch auswachsen, so erklärt es der über seine Lebenserfahrung resigniert gewordene Erwachsene.

Zweifellos sind Aljoscha Anlagen mitgegeben, ein tragischer Held zu sein: das angespannte Verhältnis des Kindskopfes zu seiner Umwelt, die Fallhöhe angesichts einer nicht standesgemäßen Hochzeit des Fürstensohnes (wenngleich die feudale Ordnung nur mehr Symbolcharakter hat – Aljoschas Vater hat kaum Macht und wenn er nicht gerade wieder jemanden übers Ohr gehauen hat, besitzt er auch kein Vermögen), der Konflikt, zwischen zwei Frauen entscheiden zu müssen, und schließlich die vom Erzähler proleptisch explizit gemachte „Katastrophe, die [dem] ganzen Roman die Lösung [gibt]“ (S. 334). Doch insbesondere bei Aljoschas Zerrissenheit, seiner Unfähigkeit, sich zwischen Katja und Natascha, zwischen der Welt des Adels und der des einfachen Volkes, zu entscheiden, hakt es hinsichtlich des Tragischen gewaltig: Es will sich nur schwerlich Mitgefühl einstellen. Stattdessen ist es zumeist einfach nur komisch, wie Aljoscha zwischen den beiden Frauen hin und her irrt, wie leicht er in seiner Entscheidungsfindung beeinflussbar ist, wie er dennoch immer wieder selbstüberzeugt Einflüsterungen anderer als seine eigenen Gedanken verkündet, nur um sich kurz darauf selber zu widersprechen.

Ein Beispiel: Aljoscha kehrt von einem Gespräch mit seinem Vater zurück zu Natascha. Er behauptet, ihm gesagt zu haben, dass er eine Geldheirat für verwerflich halte, den Gedanken, ihre Familie zähle zur Aristokratie, dumm finde und Natascha heiraten werde. In der erzählten Zeit dürften nur wenige Minuten ins Land gegangen sein, da ist das Gesagte bereits gestrig geworden und interessiert nicht mehr – Aljoscha schwärmt nun von seinen Erfolgen bei einem Besuch einer greisen Fürstin: Bei der alten Dame von Rang würden die höchsten Herrschaften antichambrieren, erzählt er stolz, und ausgerechnet ihm sei es gelungen, ihre Gunst zu gewinnen – dank seines Wissens um der Fürstin Vorliebe für putzige Vierbeiner. Er habe Mimi, so der Name des hauseigenen Exemplars, mit Konfekt gefüttert und ihr das Pfötchengeben beigebracht. So schnell geht sie vonstatten, die Metamorphose vom kleinen Sozialrevolutionär, der die Mauer zu den einfachen Menschen einreißen möchte, zum Adelssprössling, der sich in den Belanglosigkeiten seiner Standesgenossen verliert.

Aljoscha ist definitiv ein komischer Held, doch lachen lässt sich hier auf zweierlei Weise. Um welche Art es sich handelt, ist nicht weniger als eine Charakterfrage; noch höher gegriffen: Es ist eine Frage der Moral. Aljoscha, das Kind im Körper eines jungen Mannes, wankelmütig und unsicher – seiner selbst und der Welt –, kann verlacht werden. Das Verhöhnen seiner Naivität (die zweifellos vorhanden ist) übergeht jedoch Entscheidendes: seinen Idealismus, der sich in uneingeschränkter Offenheit und Aufrichtigkeit zeigt; beides besitzt er im Übermaß (was nicht mit einer weißen Weste in Angelegenheiten der Moral verwechselt werden darf). Wer diese Eigenschaften berücksichtigt, der wird über Aljoscha vielleicht noch schmunzeln, sich allerdings nicht überheblich schütteln vor Lachen. Dass er seinen Mitmenschen stets vollkommen arglos, ohne jeden Hintergedanken entgegentritt, immer in der trügerischen Gewissheit, alle Welt wolle nur sein Bestes, kollidiert mit der moralischen Verwahrlosung seiner Umgebung (insbesondere der seines Vaters). Dass es an diesem Punkt einen Konflikt gibt, bleibt Aljoscha jedoch verborgen – sein unerschütterlicher Glaube an das Gute trübt seinen Blick auf die Welt. Doch der Wunsch nach dem Besseren erfüllt sich eben nicht, indem er ausgesprochen wird; auch das Träumen hat idealerweise einen Fahrplan, dem Hindernisse nicht fremd sein sollten; es muss mit Widrigkeiten rechnen, um sie ausräumen zu können.

Dass Aljoscha, ausgestattet mit seinen Idealen, versucht dem trüben Tümpel seiner Umwelt blütenweiß zu entsteigen, lässt das Lachen zwar nicht gefrieren, dämpft es jedoch erheblich – und leitet es entscheidend um: „[D]as Humoristische kann an diesem Punkte in eine neue Komik hineinstrahlen, aber im ganz anderen Sinn, sofern nämlich das geschundene, verkannte Ich die Dinge und Menschen fühllos durch sich hindurch passieren läßt und dergestalt am Ende nicht mehr, wie in der Komödie, das Ich zur Welt, sondern die Welt zum Ich in die komische Spannung, in die Komik der sich in den Weg stellenden Wesenlosigkeit gerät. Irgendwann geschieht es, daß gerade um diesen belustigenden Helden das Lachen jäh verstummt (…). Irgendwie steht der so verstandene ‚komische‘ Held, mit neuer, bald umgekehrter Komik, dem Erhabensten näher als der tragische“ (Bloch, Ernst, Geist der Utopie (Faksimile der Ausgabe von 1918), Werkausgabe Bd. 16, Frankfurt am Main 1985, S. 76). Aljoscha hat nur seine uneingeschränkte Aufrichtigkeit – und genau deshalb kann er der Welt nichts entgegensetzen. Schutzlos muss er alle Lügen, Intrigen und Manipulationen „durch sich hindurch passieren“ lassen; dies nicht „fühllos“, wie Bloch es behauptet, sondern durchaus verletzend – wobei jeder neue Treffer ebenso schmerzhaft ist wie der erste. Wenn sich jemand in solcher Unschuld ausliefert, ist eigentlich nur ein Schluss zulässig: Es steht hier nicht der Held quer zur Welt, sondern die Welt passt nicht zum Helden. Sie bietet Widerstand, wird zugleich in Frage gestellt. Über sie kann gelacht werden, gerne abschätzig, auch mit Wut. Das schafft Distanz, verhindert, dass man in Unrechtes involviert wird. Im Idealfall gibt dieses Lachen den Impuls zu einer drängenden Frage: Was ist das für eine Welt, die für die Aufrichtigen und Ehrlichen vor allem Niederlagen bereithält?

Alexander Beggrow - Morgen in St. Petersburg
Das St. Petersburg des 19. Jahrhunderts – hier auf einem Ölgemälde von Alexander Beggrow – ist Schauplatz von Dostojewskijs „Erniedrigten und Beleidigten“. Original: Beggrow_030.jpg

Diese Welt ist die des Vaters von Aljoscha, die aristokratische in ihrer Übergangsphase vom alten Ständefeudalismus zum kapitalistischen Geldadel. Die geltenden Spielregeln sind mit einem Charakter wie dem Aljoschas nicht kompatibel; da braucht es rohere Eigenschaften – Gewalt, Unterdrückung, das Streben nach Macht –, die jede Hoffnung auf ein harmonisches Miteinander aller Menschen pulverisieren. Wer sich unangreifbar wähnt, kann auch die Maskerade aus Etikette und guter Kinderstube lüften. So tut es der Fürst im Gespräch mit dem Ich-Erzähler. Redselig vom Wein eröffnet er diesem seinen Hass auf alle „billigen Naivitäten und Tändeleien“ (S. 305), die seinen „Dummkopf“ (S. 299) von Sohn auszeichnen würden. Derartiges Schillertum, wie er es nennt, verdient nur seine Verachtung. Ins Positive gewendet wird diese Weltsicht noch hässlicher: „Ich halte mich nur da für verpflichtet, wo es mir irgendeinen Nutzen bringt. (…) Liebe dich selber – das ist die einzige Regel, die ich anerkenne. Das Leben ist ein Handelsgeschäft“ (S. 313).

Man sieht, gerade an der zuletzt hingeschleuderten Sentenz, der Fürst hat die neue Welt, die sich in Russland gerade erst formierte, nur zu gut verstanden: Sein Fixstern ist das Geld; um es zu bekommen, intrigiert, lügt und betrügt er, sodass seine Biografie gleich reihenweise mit den titelgebenden „Erniedrigten und Beleidigten“ gepflastert ist. Nahezu alle Figuren werden gedemütigt durch das Streben des Fürsten nach Geld und Macht: der Ich-Erzähler, dessen Dichterexistenz ihm den Vorwurf einbringt, mit einem Leben in zweiter Reihe (inklusive einer feuchten Dachkammer als Bleibe) zufrieden zu sein; Nikolai Sergejewitsch, der vom Fürsten zu Unrecht der Veruntreuung von Geldern beschuldigt wird; Natascha, die für zu arm befunden wird, um für eine Heirat mit Aljoscha in Frage zu kommen; schließlich Nelli, die legitime Tochter, die Unterschlupf bei Fremden suchen muss, nachdem ihre Mutter verarmt im Dreck starb, weil der Fürst sie um Liebe und Vermögen betrogen hatte. Die Auflistung muss nicht vollständig sein, doch eine Überraschung sollte noch erwähnt werden: Denn natürlich gehört auch der Fürst selber zu denjenigen, die vom Geld erniedrigt werden. Die Wendung, dass im Streben nach Vermögen kein Seelenfrieden ruht, weil es immer jemanden geben wird, der noch ein bisschen reicher als man selber ist, mag wie ein abgeschmackter Kalenderspruch daherkommen, trifft aber dennoch die Wahrheit. In einem seiner wenigen lichten Momente nähert sich ausgerechnet Aljoscha, der entrückte Träumer, diesem Problem: „Besonderen Reichtum besitzen wir [die Familie] (…) nicht, der Reichtum ist aber die Hauptsache; heute ist das Haupt aller Fürsten – Rothschild“ (S. 115).

Aljoscha gelangt zu derartigen Einsichten, weiß auch um die Prioritäten seines Vaters und verkennt dennoch dessen Charakter. Der Ich-Erzähler und Natascha begehen diesen Fehler nicht. Auch als der Fürst seine Einwilligung in die Verbindung gibt, machen sie sich keine Illusionen. Es bleibt ein schlechtes Gefühl, ein Verdacht, dem Fürsten könne es nur um den eigenen Vorteil gehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein Gespräch über die Heirat sehr schnell auf die geschäftlichen Aktivitäten des Bräutigamvaters abdriftet: „[Natascha:] „Ja, konnte er [der Fürst] denn selbst bei einer ‚solchen‘ Gelegenheit [gemeint ist die Heirat] damit beginnen, sich zu verstellen und zu lügen? (…) Er wollte einen ganzen Abend bei mir zubringen und dann … Er muß wohl wichtige Geschäfte haben, wenn er alles im Stich ließ und davonfuhr. Weißt du nicht, was für welche, Wanja, hast du nichts darüber gehört?“ [Wanja:] „Gott weiß, was für welche. Er beschäftigt sich ja immer damit, sein Vermögen zu vermehren. Ich hörte, er übernahm einen Teil einer Lieferung hier in Petersburg. Wir, Natascha, verstehen doch gar nichts von solchen Sachen“ (S. 163 f.). Der ungetrübte Blick auf die Welt stößt hier an Grenzen, vermag aber dennoch das Fundament der fürstlichen Egozentrik – à la „Das Leben ist ein Handelsgeschäft“ – zumindest diffus zu erspüren.

Auch dass Aljoscha seinem Vater im Endeffekt nichts entgegenzusetzen hat, dass er in seiner Naivität immer ein Spielball fremder Interessen bleiben wird, trägt schließlich dazu bei, dass Natascha von einer Heirat mit Aljoscha abrückt. Vielleicht steckt mehr Liebe in jemandem, der um ihretwillen ein Trümmerfeld vermeidet, anstatt es zum Schaden des Geliebten zu hinterlassen. Der klare Blick auf die Welt, den der Fürst einzig für Schlechtes einsetzt, verbindet sich hier mit dem Wunsch nach dem Besseren, der bei Aljoscha zwar im Überfluss vorhanden ist, jedoch ohne Anbindung an die Wirklichkeit bleibt. Natascha weiß, dass ein Insistieren auf eine Verbindung mit Aljoscha die Beziehung zu ihren Eltern endgültig zerrütten würde (stattdessen kommt es zuletzt zu einer Versöhnung); sie weiß, dass an Aljoscha Kräfte zerren würden, denen dieser nicht gewachsen wäre; und schließlich weiß sie auch, dass der Fürst weitaus wahrscheinlicher die Hölle als den Himmel in Bewegung setzen würde, um eine nicht-standesgemäße Vermählung seines Sohnes zu verhindern. So gibt Natascha nach, leidend zwar, doch im Wissen, Schaden von ihren Mitmenschen abgewendet zu haben.

Dem Sozialromantiker, der an die Grenzen einreißende Kraft der Liebe glaubt, mag dies schwer im Magen liegen. Doch um zu konstatieren, Natascha bleibe am Ende geschlagen zurück, muss man sich schon die infantile Weltsicht der aristokratischen Figuren des Romans aneignen – die rücksichtslos besitzergreifende des Fürsten oder die schwärmerische Aljoschas. In der Einsicht, dass bestimmte Dinge (noch) nicht an der Zeit sind, steckt ebenso wenig eine Niederlage wie im Handeln des Fürsten ein Triumph – dies obwohl er für seine Abartigkeiten nicht zur Rechenschaft gezogen wird, obwohl er seinen Willen durchsetzen und mit der Heirat zwischen seinem Sohn und Katja einen neuerlichen Betrug einleiten kann (denn natürlich ist er allein am Vermögen von Katjas Familie interessiert). Über diese Dinge hat der Leser längst zu lachen gelernt; und zwar ein Lachen, das auch abgetragene Lumpen, eine feuchte Wohnung und ein leeres Portemonnaie nicht erschüttern können – ein Hochgefühl für alle „Erniedrigten und Beleidigten“, das gegen jede Rache immunisiert ist.

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