Alljährlich liegt der Säugling wieder in seiner Krippe, zwischen Ochs‘ und Schaf im Stall zu Bethlehem – ganz so, wie es das Lukasevangelium nahelegt. Nur laufen und sprechen lernt Jesus in den kanonischen Schriften des Neuen Testaments seltsamerweise nie, hat (fast) keine Kindheit und keine Jugend, taucht erst als erwachsener Mann im Gewand des Wanderpredigers wieder auf. Bemerkenswert ist diese Aussparung, weil sie (in ahnender Voraussicht?) einen Zugang zu Jesu Biographie vernagelt, der aus heutiger Perspektive naheliegend wäre – den psychologischen. Denn was passiert, ruft sich gegenwärtig jemand als Gottessohn aus? Er wird zum Fall für die Anstalt, wo der Arzt den Lebenslauf nach Hinweisen durchforstet, die diese kühne Behauptung erklären könnten. Jesus jedoch ist ohne Biographie; von der Krippe im Stall führt kein Weg zum Wundertäter. Dies gilt allerdings vornehmlich für die kanonischen Schriften des Neuen Testaments. In den Apokryphen – all jenen Texten des Frühchristentums, die nicht Aufnahme in den Kanon fanden – tritt Jesus als Heranwachsender auf. Und er benimmt sich dort zuweilen exakt so, wie man es von einem Gottessohn im Kindesalter erwarten würde: verzogen, unbelehrbar, anmaßend, grausam.
Dieser ‚Diagnose‘ zum Trotz laden auch die apokryphen Kindheitsevangelien nicht zum Psychologisieren ein (anders als bemerkenswerterweise das Alte Testament – erinnert sei an Hiobs Leid, den Sündenfall oder den Brudermord), was mit dem Abstand von zwei Jahrtausenden, dazu in der Auseinandersetzung mit einem Text, der historisch Verbürgtes, Mythologisches und nachträglich Geschöntes gnadenlos durcheinandermischt, ohnehin zu nichts führen würde. Wer sich dennoch aus dieser Perspektive an den Messias wagte, wie etwa Nietzsche (was auch dieser wohlgemerkt als gelehrten Müßiggang abtat), der konnte Jesus zwar nachweisen, dass er ein Idiot ganz nach Dostojewskij-Art war, ähnlich der Figur des Aljoscha aus Die Erniedrigten und Beleidigten: weltabgewandt und kindlich-naiv, der Realität so fern, dass nur ein Sprechen in Gleichnissen möglich ist, dabei im unerschütterlichen Glauben dem Bösen mit ausdauerndem Erdulden beikommen zu können. Doch die Frage nach den Ursachen für diesen „psychologischen Typus“ (Nietzsche, Der Antichrist, Kap. 24), die Frage also, wie Jesus zu einem solchen Idioten werden konnte, scheint in dessen Jugend, die in den Evangelien quasi nicht existent ist. Um diese Leerstelle und ihre Konsequenzen für die Kulturgeschichte soll es an dieser Stelle gehen.
Warum die Schriften des Neuen Testaments eine derartige Imprägnierung erfahren haben, die jede biographische Annäherung an die Person Jesus abperlen lässt, ist kaum mehr feststellbar. Denn diese Frage ist an die Formierung des neutestamentlichen Kanons im 1. und 2. Jahrhundert gebunden, die größtenteils im Dunkeln liegt. Aus der mündlichen Überlieferung des Urchristentums bildeten sich regionale Traditionen, die sich teils erheblich unterschieden; entsprechend differierte auch die schriftliche Fixierung, was wiederum die weitere Überlieferung beeinflusste. Wie nun das Neue Testament Autorität gegenüber dem Alten Testament erlangen konnte, wann dies für einzelne Schriften exakt geschah und welche Motive und Kräfte hierbei ausschlaggebend waren, ist nur noch bruchstückhaft rekonstruierbar. Fest steht immerhin, dass der Etablierung des Kanons kein „kirchenregimentliche[r] Beschluß“ (Schneemelcher, Wilhelm, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1 (Evangelien), 5. Aufl., Tübingen 1987, S. 26) zugrunde lag; vielmehr ist er aus einem Prozess hervorgegangen, der sich über knapp 200 Jahre erstreckte. Hierbei traf manch ein Apokryphon der Bannstrahl stärker als andere: Während etwa das Protevangelium des Jakobus, das von Marias Leben und dem ihrer Eltern, Anna und Joachim, berichtet, in der katholischen Marienverehrung bis heute eine wichtige Rolle spielt, ist gegen die Thomastradition (zu der auch ein Kindheitsevangelium gehört) bereits sehr früh energisch vorgegangen worden – dies vor allem, weil dessen Schriften sich seinerzeit auch unter den Gnostikern, Anhängern eines spätantiken, weltabgewandten und messiasgläubigen Zeitgeistes, großer Beliebtheit erfreuten. Von einer planvollen Tilgung der Biographie Jesu kann folglich nicht ausgegangen werden. Doch vielleicht kann dem Frühchristentum so etwas wie eine kollektive Ahnung unterstellt werden, dass es ratsam sein könnte, dem Kanon nicht allzu viele Informationen über den heranwachsenden Heiland anzuvertrauen. Zumindest die letztendliche Auswahl bekräftigt diese Vermutung. (Anders sieht die Situation hingegen für die weitere Kirchengeschichte aus: In Mittelalter und Früher Neuzeit sind öfter Dekrete der Kurie gegen die Kindheitsevangelien erlassen worden. Auch Luther war ihnen gegenüber äußerst ablehnend eingestellt.)
Kindheit und Jugend im Kanon
Was aber geben die kanonischen Evangelien nun exakt (nicht) her über Kindheit und Jugend Jesu? Dasjenige nach Markus, gemäß der weithin anerkannten Zwei-Quellen-Theorie zugleich das älteste (Matthäus und Lukas nutzten es als Grundlage, zusammen mit einem unbekannten Spruchtext), verrät in dieser Hinsicht gar nichts. Der Text setzt mit der Taufe des erwachsenen Jesus im Jordan ein. Das Gleiche gilt für das Johannes-Evangelium, wobei in diesem mit viel Phantasie zumindest so etwas wie eine ‚Geburt‘ erkannt werden kann: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1, 14). Im Zusatz „eingeboren“ (griech. monogenetos hyios – der einzig geborene Sohn) kündigt sich die Ausnahmestellung Jesu hinsichtlich seiner Abkunft an, die bei Matthäus und Lukas breiter ausgeführt wird. Beide erzählen sie, gleichwohl mit unterschiedlichen Schwerpunkten, von der Geburt und einigen frühen Wegmarken des Gottessohnes. Matthäus widmet Empfängnis und Niederkunft nur wenige Sätze, geht dann zum Wüten des Herodes‘ über, der ob des frisch geborenen Erlösers Israels um seine Macht fürchtet. Lukas hingegen erzählt die Weihnachtsgeschichte, die es als Evergreen in den Gottesdienst am Heiligen Abend geschafft hat: die Schwangerschaft der Jungfrau, der Zensus, die Reise, die Geburt im Stall, schließlich die Verkündigung durch einen Engel, der Heiland sei geboren. Im Anschluss wird nicht die Flucht der Familie vor Herodes geschildert (wie bei Matthäus), sondern die Darstellung des acht Tage alten Jesus im Jerusalemer Tempel. Hierbei handelt es sich um eine jüdische Tradition, nach der jeder erstgeborene Sohn in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten als Besitz Gottes angesehen wird und durch ein Opfer ausgelöst werden muss. Interessanter noch als diese Geschichte über den Säugling Jesus ist die anschließende Episode.
Denn als einziger der kanonischen Evangelisten erzählt Lukas von der Jugend Jesu. Er berichtet, wie dieser als Zwölfjähriger nach der Feier des Pessachs, zunächst unbemerkt von seinen Eltern, in Jerusalem im Tempel bleibt, um dort den Lehrern zuzuhören und mit ihnen zu diskutieren. Als Maria und Josef sein Fehlen bemerken, beginnen sie, ihn zu suchen. Nach drei Tagen schließlich finden sie ihren Sohn. „Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Lk. 2, 48-52). Es ist ein ambivalentes Bild, das hier vom jugendlichen Jesus gezeigt wird. Der kluge Junge, der mit den Alten gewichtige Fragen diskutiert, taugt – nach Verrauchen des ersten Ärgers – sicherlich zur Beförderung von Mutterstolz (Maria behält alle Worte ihres Sohnes im Herzen) und zur Erlangung von Anerkennung in der Gemeinde, doch gibt es auch einen Beigeschmack: Was ist das für ein Kind, das auf Augenhöhe mit den Erwachsenen agiert – deshalb kaum von ihnen zu unterscheiden ist –, das die theologische Auseinandersetzung dem Spiel vorzuziehen scheint? Und ist nicht eigentlich jeder ‚gelehrte Zwölfjährige‘ in aller Regel ein altkluger Besserwisser, der sich trotz – oder gerade wegen – seines beschränkten Horizonts zu fernen Ufern aufmacht und dabei Schiffbruch erleidet? Irgendetwas ist schief in diesem Bild, geht nicht überein mit den Vorstellungen, die man sich gemeinhin über Kindheit und Jugend macht: Jesus erkundet die Welt nicht, eignet sie sich nicht an, sondern beginnt bereits, sie (mit) zu verwalten. Wenngleich der letzte Satz der zitierten Passage von zunehmender Weisheit und Gnade erzählt, erscheint er doch als ein fertiger Mensch – bereits in solch jungen Jahren; wahrscheinlich war er es bereits in der Krippe.
Letztlich bestätigt diese einsam stehende Jugend-Episode nur das, was die anderen Evangelien bereits mit ihren Leerstellen in Bezug auf das Aufwachsen Jesu deutlich anzeigen: Zum Gottessohn entwickelt man sich nicht, man wird als solcher geboren. Dies ist die Letztbegründung und zugleich die einzige Begründung für alles Wirken des Messias. Alle weiteren Fragen nach den Ursachen seines Handelns sind überflüssig, da es keinerlei Entwicklung gibt. Jesus hat nie eine Sozialisation erfahren; er hat nie, in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, eine Identität erwerben müssen; jenseits des Diskutierens religiöser Fragen und der Verkündigung der frohen Botschaft hat er auch keine Begierden und Verlangen, keine Sehnsüchte und Wünsche. Jesus ist kein selbstständiges Individuum – er hat nur sein Stellvertreterdasein als Handpuppe Gottes auf Erden; immerzu tritt er mittelbar unter die Menschen, handelt im Auftrag als Sohn Gottes; deshalb ist alle Psychologie an ihm verloren.
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter…“
Dass Jesus zuweilen mehr als gefertigter Automat (mit einprogrammiertem Auftrag) denn als gereifter Mensch auftritt, zeigt sich insbesondere am Verhältnis zu seiner Familie. Nun kann behauptet werden, dass er eigentlich gar keine leibliche Familie habe, wird Maria doch vom Heiligen Geist geschwängert, wodurch sie als ewig jungfräulicher Brutkasten zurückbleibt und zugleich Gott an die Position des Vaters befördert wird. Doch immerhin, Maria bringt Jesus zur Welt und Josef gilt zumindest in der Gemeinde als sein Vater. Ihre Position als Eltern ist in den Evangelien jedoch vollkommen unerheblich: Während Maria hier und da als Teil der Gefolgschaft ihres Sohnes genannt wird, taugt Josef nicht einmal zum Feierabendvater: Ist von ihm die Rede, so schläft er meistens und erhält im Traum Anweisungen von den Englein. So sieht das aus, wenn der Stiefvater vom ‚tatsächlichen‘ Vater, der überall und nirgends zugleich ist, herumgeschubst wird. Nein, durch seine irdischen Eltern wird Jesus nicht geprägt. Die Distanz zu ihnen zeigt sich bereits in der oben zitierten Tempel-Episode. Maria bringt ihre und Josefs Sorgen zum Ausdruck und ihr Sohn reagiert mit absolutem Unverständnis: „Was habt ihr mich gesucht?“ Es ist, als wäre er ohne jede Empathie ausgestattet, als könne er sich den psychischen (!) Horror der Eltern auf der Suche nach dem vermissten Kind überhaupt nicht vorstellen. Gleich im nächsten Satz spricht er bereits wieder von seinem Auftrag: „Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“
Was für Jesus zählt ist nicht die leibliche Familie – sie ist ihm herzlich egal –, sondern die religiöse Gemeinschaft. Wenn er von Brüdern und Schwestern spricht, so meint er nicht die anderen Kinder Josefs, sondern seine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern (vgl. Mt. 12, 46-50, Mk. 3, 31-35). Blut ist in der Heiligen Familie weitaus dünner als Wasser, dünner auch als der Wein, der auf der Hochzeit zu Kana zur Neige geht. Als Maria eine Bemerkung macht, die Jesus nahelegt, er möge doch bitte für Nachschub sorgen, fährt dieser sie an: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh. 2, 4). Alle Gehorsamkeit, die den Zwölfjährigen im Tempel noch auszeichnete, ist hier verschwunden, und mit ihr auch die Höflichkeit. Man ist fast versucht, dem Erlöser, dessen Stunde bald kommen wird (man sieht, auch hier geht es um den Auftrag), noch ein wenig Studium im Tempel nahezulegen – mit besonderem Fokus auf Ex. 20, 12. Verständlich wäre die Reaktion, handelte es sich hierbei um eine launige Geschichte aus der Jugend: Der junge Jesus, zum ersten Mal auf einer Party, um Coolness bedacht – da taucht plötzlich die Mutter auf und hat ihren peinlichen Auftritt. Doch hier spricht ein erwachsener Mann um die 30. Maria allerdings scheint sich nicht groß zu stören an ihrem pampigen Filius. Ungerührt gibt sie nach der harschen Abfuhr die Order an dessen Diener, zu tun, was Jesus ihnen auftrage. Anders als seinerzeit im Tempel, als sie ihr verschwundenes Kind wiedergefunden hatte, knüpft sie mittlerweile keinerlei Erwartungen mehr an die leibliche Familie. Stattdessen geht nun auch sie voll auf im ‚Unternehmen‘ ihres Sohnes – der Verkündigung der frohen Botschaft.
Warnung hätte Maria bereits ihr eigenes Aufwachsen sein können – auch dieses war vom Vorrang der Religion geprägt. Das Protevangelium des Jakobus berichtet von der quälenden Kinderlosigkeit ihrer Eltern. Joachim wird im Tempel schikaniert, weil er dem Volke Israels keine Nachkommen schenken kann. Aus dem gleichen Grund wird Anna von ihrer eigenen Magd herabgesetzt. Doch wenig überraschend ist ein Engel nicht weit; er erscheint Anna und kündigt ihr eine baldige Schwangerschaft an – ganz so, wie es später auch ihrer Tochter widerfahren soll. Wie das Kind nun in den Leib kommt, erfährt der Leser nicht. Doch als es erst einmal auf der Welt ist und nach einiger Zeit diese auf eigenen Beinen erkunden möchte, da reagiert Anna folgendermaßen: „So wahr der Herr, mein Gott, lebt, du sollst nicht mehr auf dieser Erde umhergehen, bis ich dich in den Tempel des Herrn führen werde“ (ProtevJac., zitiert nach: Plisch, Uwe-Karsten, Was nicht in der Bibel steht. Apokryphe Schriften des frühen Christentums, Stuttgart 2006, S. 48-49). So geschieht es: Von Maria wird alles weltlich Unreine ferngehalten, zunächst im Elternhaus, ab ihrem vierten Lebensjahr schließlich im Tempel. Dort wird die kleine Maria mit Fackeln hineingetrieben, „damit sie [so ihr Vater Joachim] sich nicht zurückwende und ihr Herz nicht vom Tempel des Herrn weggelockt werde“ (ebd., S. 50). Im Tempel wächst sie auf, in Isolation zwar, aber umhegt wie eine Gabe Gottes.
Bis hierhin wird all das vorexerziert, was auch auf ihren eigenen Sohn zutrifft: Es gibt kein Entdecken, keine Entwicklung, kein Reifen, keine Prägung durch die leibliche Familie, sondern nur die Konservierung eines Menschen im Namen der Religion. Verlassen muss Maria den Tempel, als ihre erste Menstruationsblutung droht. Sie dürfe das Heiligtum nicht beflecken, befinden die Priester. Deshalb wird sie in einer Art phantastischen Tombola Josef per Los zugesprochen. Der Witwer nimmt sie bei sich auf, da fährt auch schon der Heilige Geist in ihren Unterleib. Es ist bezeichnend: In dem Augenblick, in dem sich eine Entwicklung durch die einsetzende Pubertät ankündigt, wird im Namen der Religion interveniert und der natürliche Lauf der Dinge kurzerhand durch nebulösen Nonsens ersetzt. Zu einer Zeit der hormonellen Turbulenzen, des Zweifels und Hinterfragens, des Zauderns und der Orientierung (insbesondere auch in sexueller Hinsicht) darf es – wie auch bei Jesus – nicht kommen. Die Evangelien, kanonische wie apokryphe, legen hier den Samen für den Hass auf alles Leibliche, den die Institution Kirche später so prächtig gedeihen ließ. Nochmals: Dahinter braucht kein Plan der Evangelisten vermutet werden, vielmehr eine Instinktsicherheit ihrerseits. Denn wer die eigene Botschaft verbreitet sehen möchte, muss die Konkurrenz bedenken. In diesem Fall sind dies alle Verlangen, die von der Liebe zu Gott und seinem Sohn ablenken könnten. Sie gilt es zu verdammen; wobei die Intention mit den Jahrhunderten immer schnöder wurde, denn natürlich geht es an diesem Punkt um weltliche Macht, um Kontrolle über die Menschen und ihrer Lebensweise. Und spätestens als der Klerus sich zum Staatsträger aufgeschwungen hatte, ging jener Samen voll auf: Nicht mehr die frohe Botschaft Jesu, sondern die hässliche Botschaft von der Regelverletzung und ihren Konsequenzen stand fortan im Mittelpunkt, um sich eine Herde von Lämmern untertan halten zu können. Da hilft es, dass die Bibel den Körper vor allem unter Leid und Qualen kennt: Jesus heilt die Aussätzigen, die Blinden und die Lahmen, er muss (zumindest im Johannesevangelium) selber sein Kreuz tragen, um schließlich an selbiges genagelt zu werden. Was der Körper an Lust bereiten kann, hat im Christentum keinen Platz. Ist von Liebe die Rede, so ist stets die Liebe im Glauben an Gott gemeint. Sie ist geistiger Art und soll immer präsent sein, auch in Zeiten von Leid und Unglück, die einfach zu göttlichen Prüfungen umgedeutet werden.
Ein Erbe als Last
Die Präsentation von Biographien ohne (echte) Jugend, damit einhergehend die Verdammung aller Körperlichkeit, die Zurückweisung der leiblichen Familie und das Fehlen des Psychologischen – all dies lässt die Evangelien aus heutiger Perspektive als reichlich entkernte, irgendwie hohle Texte erscheinen. Es sind hier zwar Anknüpfungspunkte etwa für jenen Teil der bildenden Künste gegeben, die aus toten Menschen tote Bilder und Skulpturen erschaffen, nicht jedoch für den lebendigen Teil der Künste und für die Wissenschaft. Deutlich wird diese Ödnis, wenn die christlichen Schriften in dieser Hinsicht mit anderem antiken ‚Mythen-Material‘ verglichen werden. Aus den Erzählungen der Griechen etwa sprudeln psychische Dilemmata, Körperlichkeit und Familiendramen in Fülle hervor. Sowohl Kunst, die Veränderung will, nicht religiöse Erbauung, als auch die moderne Wissenschaft fand in ihnen eine reiche Quelle: Freud etwa erkannte in Ödipus das unbewusste Begehren des Sohnes gegenüber der Mutter; Hegel (u.a.) verdeutlichte an Antigone den Konflikt zwischen Familien-, Religions- und Staatstreue; Judith Butler machte in ihr eine frühe Anwältin für unkonventionelle Familienkonstellationen aus; Helena, als Archetyp der Schönheit, wegen der die Hölle losbricht, fand unzählige Wiedergänger in der Kunst; ebenso wie Odysseus, der lange Umherirrende, der sogar sprichwörtlich wurde. Bleibt man streng bei der Psychologie, so zeigen sich prominent noch Narziss und Medea als Verkörperungen psychischer Deviationen. Eine solche Tiefendimension zum Universellen, die auch für weitere Jahrtausende Aktualität garantiert, bieten die Evangelien nicht.
Was wohlgemerkt nicht bedeutet, dass das Christentum folgenlos geblieben wäre, eine (wissenschaftliche) Suche nach seinen Spuren in der Gegenwart keinen Sinn hätte. Im Gegenteil, tiefwurzelnde, kaum bewusst reflektierte Auswirkungen hat es zuhauf gegeben, beispielhaft sei nur die schon genannte kümmerliche Rolle Josefs in der Heiligen Familie angeführt. Sie hat ihr Erbe im gesellschaftlichen Imperativ an den Vater, einer Lohnarbeit nachzugehen, was diesen josefgleich von der Familie entfernt (vgl. Koschorke, Albrecht, Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2001). Ein weiteres Beispiel ist die Heilserwartung der Neuzeit, die von der Rückkehr des Messias auf den wirtschaftlich-technischen Fortschritt übergegangen ist. Hierin hat insbesondere liberale und konservative Politik ihr neues Himmelreich entdeckt, dessen Errichtung besser heute als morgen ein Ende finden sollte. Schließlich die von Max Weber diagnostizierte protestantische Arbeitsethik, der ewige Belohnungsaufschub als Triebkraft des Kapitalismus. Nein, eine solche Spurensuche ist nicht gemeint, wenn von mangelnder Anschlussfähigkeit die Rede ist. Vielmehr geht es darum, dass das Christentum mit viel überflüssigem, nur schwer loszuwerdenden Ballast unsere Zeit beschwert, während den Mythen der Griechen oftmals ein treibendes, zukunftsträchtiges Moment zukam, das erst in jüngerer Vergangenheit auf seinen wissenschaftlichen Begriff gebracht werden konnte. Dem hat das Christentum als positiv lebendiges Erbe ‚lediglich‘ die Botschaft Jesu von einem nachsichtigen, verzeihenden Gott entgegenzusetzen, der dereinst ein Reich der Freiheit und Gerechtigkeit errichten wird (das selbstredend nie kommen wird, so lange sich die Menschen hierbei auf Gott verlassen).
Es lohnt an diesem Punkt noch einmal umzukehren, den Weg der Argumentation zurückzugehen zum Ausgang – zum Aussparen von Kindheit und Jugend in den Schriften des Christentums. Denn dieses Urteil gilt nicht allein für die Heilige Familie, es gilt für die Bibel im Allgemeinen. Wenn Säuglinge einmal außen vor gelassen werden, sind Kinder im Alten wie im Neuen Testament eine absolute Rarität. Erst vor dem Hintergrund der obigen Diagnose eines für Erkenntnisse versiegelten Textes geht einem der Zweck dieser Leerstelle voll auf: Zeichnet sich doch das Aufwachsen durch mindestens wissenschaftsnahe Charakteristika aus: Kinder sind neugierig; sie wollen entdecken und verstehen; sie zweifeln und hinterfragen. Auch Jesus schlägt reichlich Zweifel, mitunter sogar offener Widerstand entgegen; doch immerzu sind es erwachsener Zweifel und Widerstand. Beide begnügen sich damit, gebrochen zu werden; setzen an die Stelle der überholten Gewissheit einfach eine neue, ohne ihr Zustandekommen begriffen zu haben. Die bohrenden Fragen der Jugend könnten den Wunderheiler am ehesten als Scharlatan entlarven; deshalb tauchen sie nicht auf. Doch selbst wenn sie es täten, bisse sich kindliche Wissbegierde am Heiland wohl die Zähne aus. Denn letztlich gibt es am Wirken Jesu nichts zu verstehen, sondern einzig etwas zur Kenntnis zu nehmen: Er ist der Sohn Gottes. Punkt (oder besser: Ausrufezeichen). Um es zuzuspitzen: Es kann Dutzenden seiner Sermone gelauscht werden, dem Heilen durch Handauflegen wird man kein Stück näher kommen.
Die Grausamkeit des Gottessohnes
Wenn schon die Frage, warum sich jemand als Gottessohn ausruft, mit den Schriften des Christentums nur unbefriedigend zu beantworten ist (weil er es ist), so soll zum Abschluss zumindest ein kurzer Blick darauf geworfen werden, was eine solche Bürde mit einem Kind anstellt. Hiervon erzählt (u.a.) das Kindheitsevangelium des Thomas, das die beschriebene Leerstelle in den kanonischen Evangelien mit Legenden füllt. Diese sind angereichert mit Motiven aus indischen Krishna- und Buddha-Mythen, spannen das Wunderwirken Jesu bis zum Äußersten, was Oscar Cullmann zu folgendem Urteil veranlasste: „Hier ist einfach der fremde Stoff in die Geschichte Jesu eingetragen, ohne daß er irgendwie dem Christusbild auch nur von ferne angepaßt wäre. Stünde nicht der Name Jesus neben der Bezeichnung „Kind“ oder „Knabe“, so käme man unmöglich auf den Gedanken, daß es sich bei den Erzählungen von dem übermütigen Götterknaben um eine Ergänzung der Überlieferung von Jesus handeln soll“ (Cullmann, Oscar, Kindheitsevangelien, in: Schneemelcher, Wilhelm (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1 (Evangelien), 5. Aufl., Tübingen 1987, S. 352). Wenn jedoch die Ödnis des Kanons in Sachen Kindheit und Jugend bedacht wird, kann dies so tragisch nicht sein. Gerade die Befreiung von theologischen Interessen macht das Kindheitsevangelium des Thomas beachtenswert: Es ist zumindest ein wenig lebensnäher als die kanonischen Evangelien. Dies zeigt sich gleich in der ersten Episode, in der sich kindliche Wut auf ungute Weise mit göttlicher Allmacht verbindet: Der fünfjährige Jesus spielt am Bach; er staut Wasser auf, da kommt ein anderer Junge mit einem Stock und zerstört den kleinen Stausee. Jesus wird wütend, beschimpft den Jungen und lässt ihn schließlich verdorren – so wie die Bäume und Sträucher verdorren würden, bekämen sie kein Wasser mehr. Während das ermordete Kind weggetragen wird, kehrt Jesus kurz heim, bricht jedoch sogleich wieder ins Dorf auf. Wiederum begegnet er einem Jungen, der ihn an der Schulter touchiert. Auch ihn ermordet Jesus: „‘Du sollst auf deinem Weg nicht weitergehen!‘ Sogleich fiel der Knabe hin und starb“ (Kindheitsevangelium des Thomas, zitiert nach: Schneemelcher, Wilhelm (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1 (Evangelien), 5. Aufl., Tübingen 1987, S. 354). Nach dem zweiten toten Kind richten die Dorfbewohner ihre Klagen an Josef. Er solle seinen Sohn in die Schranken weisen oder den Ort mit ihm verlassen. Als dieser Jesus zur Rede stellt, lässt der Fünfjährige all jene, die ihn anklagen, erblinden. Den Fluch löst er erst, nachdem er seinen Vater verhöhnt und einen seiner Lehrer bloßgestellt hat. Warum er die „Herzensblinden“ (ebd., S. 356) wieder sehend macht, wird ebenso wenig beantwortet wie die Frage, warum Anrempeln oder ein nichtiges Zerstörungswerk zu eben jener Herzensblindheit führen.
An diesem Punkt hört es folglich mit der Lebensnähe schon wieder auf: Der kleine Tyrann, so fährt das Evangelium fort, wird nun seltener erzürnt; die Gemeinschaft versucht nicht, ihn zu sanktionieren; es dominieren fortan die Wundertaten, wie Totenerweckungen oder Ernteoptimierungen. Die ihn gerade noch verfluchten, preisen nun den Sohn Gottes. Dass eine solche Volte, zumal im Umgang mit einem Kind, kaum plausibel ist, findet nicht weiter Beachtung. So zeigt sich das Kindheitsevangelium vom psychologischen Aspekt ähnlich mager wie die kanonischen Texte. Zwar gibt es einen wütenden, boshaften Jesus, der seine Kräfte als Stellevertreter Gottes unverhältnismäßig einsetzt, mit der Zeit auch ein wenig umgänglicher wird. Alles in allem jedoch findet auch im Text des Thomas keine Entwicklung statt. Dass es auch hier sinnlos ist, die Frage nach dem „Warum“ der göttlichen Abkunft zu stellen, zeigt insbesondere der Umgang Jesu mit seinen Lehrern: Insgesamt derer drei versuchen sich an der Unterrichtung des Gottessohnes; sie alles müssen innerhalb kurzer Zeit eine Umkehrung des Schüler-Lehrer-Verhältnisses erleben – fortan werden sie von Jesus belehrt. Als der zweite Lehrer den Fehler macht, intervenieren zu wollen, muss er kurzzeitig ins Totenreich einkehren. Die Botschaft dieser Episoden ist so eindeutig wie bekannt (aus den kanonischen Evangelien): Jesus muss nichts lernen, schon gar nicht irgendwelches weltliches Wissen. Er ist fertig auf die Erde gekommen, gesandt von Gott, ausgestattet mit einer Weisheit, die ihm Eltern und Lehrer nicht vermitteln könnten, die sich augenscheinlich auch mit weltlicher Gelehrsamkeit nicht verträgt. Diese Weisheit hat keine Jugend in sich, auch keine Reife und kein Alter, sondern nur Einzigartigkeit, die Wundertat und Grausamkeit gleichermaßen legitimiert. An ihr wird alle Psychologie zum unnützen Werkzeug; an sie muss geglaubt werden.