Es ist das immergleiche Schauspiel im Aufeinandertreffen von Arm und Reich, über Jahrhunderte hat es sich eingeschliffen: Der Unterdrücker, der einem Ketten anlegen wird, kommt im Gewand des Wohltäters. In der Maskerade des Menschenretters sprudeln nichts als große Worte und Versprechungen aus seinem Mund. Wo die Menschen Not und Elend kennen, trifft das Geschwätz auf einen besonders fruchtbaren Boden. Ein solcher Untergrund ist auch in der sibirischen Taiga bereitet, die großen Worte sind an junge Mädchen und ihre Familien gerichtet, ihr Inhalt handelt von einer glanzvollen Karriere als Model, von der weiten Welt und von finanzieller Absicherung für die gesamte Familie.

Es ist wie beim Unternehmer, der in Schwellen- und Drittweltländern produzieren lässt: Die Modelagenten folgen schlicht der Armut, damit die eigenen Gewinnmargen möglichst hoch sind und zugleich den Kunden beim Preis nicht der Schrecken in die Glieder fährt. In schlichten Behausungen, bei einem schlichten Mahl vergrößern sich ihre verheißungsvollen Versprechungen ins Unermessliche. Der verlogene Lockruf von einer glanzvollen Weltkarriere zündet besonders gut bei denjenigen, die noch nicht einmal die nächstgelegene Stadt gesehen haben.

Für den Vorsitzenden einer in Sibirien operierenden Modelagentur – einen Mann, der seine Halbwelt-Existenz aus jeder Pore ausschwitzt und auf den Namen Tigran Khachatrian hört – ist der Auftrag ein biblischer: „So wie Noah alle Tiere gerettet hat, versuche ich all diese jungen Mädchen zu retten. (…) Und ich hoffe, dass sie eines Tages anderen Menschen Gutes tun werden. Für mich ist das eine Art religiöse Sache – meine ganz persönliche Bibel.“ (Redmon, David/Sabin, Ashley, Teenie-Model (orig. Girl Model), USA/Kanada 2011.) Der erste Schritt zur ‚Rettung‘ ist die Fleischbeschau im gleißenden Licht einer Theaterbühne: Mehrere Dutzend Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren haben die zweifelhafte Ehre sich begutachten zu lassen. Es geht zu wie auf dem Viehmarkt: Interessant ist allein die Ware, die mit einer Nummer versehen ist, nicht begrüßt wird, sich auch nicht selber vorstellen darf.  Es regiert der Kasernenhofton, ein Gemisch aus zackigen Kommandos und unverschämten Kommentaren: „Stell dich gerade hin!“, „Du musst ‘was gegen deine Pickel tun!“, „Etwas breite Hüften!“ (ebd.)

Das böse Wort vom Model als wandelnder Kleiderständer entspricht der Wahrheit. Nicht das Kleidungsstück muss zum Menschen passen, sondern der Mensch zum Kleidungsstück. Ist dies nicht der Fall, so erfüllt der Mensch seine Funktion nicht, er wird – wie der Kleiderständer, der nicht trägt – aussortiert. Einen zweiten Versuch, eine Verbesserung kann es hier nicht geben – der Mensch besitzt nur einen Körper. Die Models sind auf Gedeih und Verderb dem Geschmack der Auftraggeber, den Schwankungen des Marktes, seinen Extravaganzen und Launen ausgesetzt. Dies ist im Übrigen auch im Bereich der vollschlanken Models der Fall, die einen immer häufiger von den Plakaten zulächeln, die Unterwäsche in Übergröße am Körper, die mollige Freundin lachend im Arm. Auch sie sind eine Laune des Marktes, mit ihnen lässt sich Geld verdienen. Wenn es sich verkaufen würde, würden die Modemacher ihre Models zur Not füttern, bis sie platzen. Alle beigelegten Worte von der Rückkehr vom Magerwahn zur Normalität sind nichts als Heuchelei.

So wird mit der Modewelt eine Insel der Unmenschlichkeit bewahrt, die nach furchtbar einfachen Regeln funktioniert: nach strengen Hierarchien und geforderten Körpermaßen, nach Gewichts- und Figurvorgaben. Und das Urteil schmilzt auf der Ebene des Vulgären zusammen, die Worte mögen (noch) nicht in Gebrauch sein, gemeint ist aber dennoch nichts anderes: „Deine Fresse/dein Arsch/dein Bauch/deine Haltung/dein Körper gefällt uns nicht!“ Gleich reihenweise werden derartige Verdikte in dem sibirischen Theatersaal ausgesprochen. Gesucht wird nach einem bestimmten Typ Mädchen: In Japan gibt es Bedarf nach Lolitas für Hochglanz-Magazine und wonach der Markt verlangt, bekommt er selbstredend geliefert. Ausgewählt – oder vielmehr ‚errettet‘ – wird unter anderem Nadya, 13 Jahre alt. Sie passt perfekt ins Anforderungsprofil.

Was folgt ist allzu vorhersehbar: auf dem Kind ruhen fortan die Hoffnungen der gesamten Familie, zwei Aufträge werden ihr zugesichert, Nadya fliegt alleine nach Japan, wird in Tokio auf dem Flughafen vergessen, ist sprachlich hoffnungslos überfordert, hat schreckliches Heimweh, bekommt keine Aufträge (auch nicht die beiden zugesicherten), weint viel und reist schließlich mit einigen tausend Dollar Schulden wieder nach Hause. Die geschaffene Abhängigkeit ist total: Sie ist nicht mehr nur ökonomischer Art, sondern auch sprachlicher, kultureller und – was angesichts des Alters der Mädchen wohl am gravierendsten ist – ebenso menschlicher Art. Es kommt nicht von ungefähr, dass des Öfteren von der guten Lenkbarkeit der besonders jungen Mädchen die Rede ist.

Während man sich noch fragt, ob die Manipulation der Familien, das Ausnutzen ihrer Armut, der Kinderhandel, die dahinter stehende Branche (inklusive der offensichtlich vorhandenen Nachfrage), die Eiseskälte der involvierten Personen oder die Maskerade einer humanitären Mission die größte Abartigkeit darstellt, liegen die Argumente der Gegenseite schon bereit: Wenn die Mädchen nicht modeln würden, wären sie verloren; sie würden Drogen nehmen oder sich prostituieren. In derartigen Erläuterungen manifestiert sich der Wohltäter, der Retter des weiblichen Geschlechts in der russischen Pampa.

Mädchen, die geeignet sind, sich aber nicht ‚retten‘ lassen möchten, werden von dem bereits genannten Tigran Khachatrian zu einem Besuch in einer Pathologie genötigt. Dort dürfen sie dann der Obduktion eines Drogentoten beiwohnen. Dies beeindrucke letztlich jedes noch so unwillige Mädchen nachhaltig, verkündet der Agenturbesitzer stolz, woraufhin eine seiner Handlangerinnen doch ernsthaft fragt, wie es dazu gekommen sei, dass ihr Vorgesetzter so viele gute Dinge tut. Die Erpressung jedenfalls verfehlt ihre Wirkung tatsächlich nicht, der Nachschub an frischen Gesichtern versiegt nicht.

Von manch einem innerhalb der Branche werden die genannten Probleme durchaus erkannt, insbesondere natürlich von den Models, die sie schultern müssen. Veränderungen allerdings werden als unmöglich angesehen. So fragt etwa ein Model älteren Semesters (biblische 23 Jahre alt), wer verantwortlich zu machen sei: die Familien, die in Armut leben? Die Models selber, denen Luftschlösser in den Kopf gesetzt werden? Die Agenten? Die Agenturen? Die Kunden? Sie kommt schließlich zu dem Schluss, dass es keinen Verantwortlichen gebe, folglich auch keine Veränderungen zu erwarten seien. Derartigen Gedanken ist ein Verständnis der Wirtschaft implizit, das diese als naturgesetzlich begreift. In einem Korsett starrer Regeln kommt dem Menschen nur mehr eine passive Rolle zu – sei es als entmenschlichte Ware, die dieselbe Behandlung erfährt wie Auto- oder Computerteile, oder als Handelsvertreter, etwa in Gestalt eines Modelagenten, der der Etymologie seiner Berufsbezeichnung (lat. agere: tun, handeln, ausführen) nicht gerecht wird: Er ist kein Handelnder, sondern ein Getriebener, bewegt von Druck und Stoß einer eigengesetzlichen Wirtschaft.

Ein solches Verständnis der Wirtschaft ist mindestens so dumm und naiv wie es gefährlich und langlebig ist. In der Dokumentation von Redmon und Sabin findet es seinen Niederschlag im Verhalten einer Agentin, die in der Vergangenheit selber als Model tätig war (Ashley Arbaugh). In einem Videotagebuch aus dieser Zeit legt sie lang und breit dar, wie sehr sie den Beruf hasst, die Oberflächlichkeit, die Unmenschlichkeit – es ist ihr alles zuwider. Worin bestand nun ihre Reaktion? Nicht etwa darin, auszusteigen oder gar aktiv gegen die Branche vorzugehen, sondern darin, einfach die Seiten zu wechseln – vom Model zur Agentin, vom Betrogen-Werden zum Betrügen. Dies ist der Spielraum, der dem tätigen Menschen innerhalb einer deterministisch verstandenen Wirtschaft noch bleibt: Mit ein wenig Glück gelingt der Übertritt vom Ausgebeuteten zum Ausbeuter.

Veränderungen wird es auf Grundlage eines solchen Denkens nicht geben, erst recht nicht auf Initiative derjenigen, die von der Armut und vom Kinderhandel profitieren. So dreht sich die Mühle immer weiter – auch für Nadya, die einige Monate nach ihrer Rückkehr die Schule abbricht und nach Japan zurückkehrt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert