Die Idylle Europa

Viele Menschen wollen sich im Anderen gespiegelt sehen; am nächsten ist ihnen, was Ähnlichkeit aufweist. Vermeintlich idyllisch geht es zu, wo einen Vertrautes umgibt, Veränderungen – wenn überhaupt – nur berechenbar eintreten. Das Fremde bricht in ein solches Idyll als Verunsicherung ein, es macht zementiert Geglaubtes porös. Deshalb hat bisher noch jede Idylle eine kaum passierbare Grenze umgeben – so auch die Idylle Europa, die als Zerrbild rechtskonservativer Politik heute lebendiger denn je ist. Weiterlesen

Auf dem (guten) Sonderweg

Das geschichtliche Fahrtenbuch der Deutschen weist Konformität gewiss nicht im Übermaß aus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte man sich lieber ab von den Entwicklungen der europäischen Nachbarn. Der deutsche Sonderweg führte zumeist in eine Sackgasse; das Leid, das er im eigenen Land und in der Welt hinterließ, ist beispiellos. Momentan ist man wieder auf einsamen Pfaden unterwegs, diesmal jedoch ausnahmsweise im Positiven. Anders als in der Vergangenheit schlägt den Nachbarn keine Verachtung entgegen, sondern es wird der Appell vorgebracht, einen gemeinsamen Weg bei der Bewältigung der Flüchtlingskatastrophe einzuschlagen. Dieses Vorhaben wird außen- und innenpolitisch torpediert – der Sonderweg ins Unglück, einst eine deutsche Spezialität, droht schleichend zum europäischen Konsens zu werden. Weiterlesen

Die Kamele sind tot – Staatswerdung im Orient

Wenn gegenwärtig im Nahen Osten, in Vorder- und Zentralasien Krieg und Terror den Alltag beherrschen, die Menschen deshalb flüchten müssen, wird eine wesentliche historische Ursache allenfalls am Rande erwähnt: Als die europäischen Staaten ihre kolonialen Abenteuer beendeten (oder beenden mussten), versündigten sie sich ein letztes Mal an ihren Untergebenen, indem sie willkürlich Staatsgrenzen festlegten – Grenzen, um die die Einheimischen nicht gebeten hatten, die auf Familien- und Stammesverbände keine Rücksicht nahmen, die letztlich einzig in die Welt der abziehenden Kolonialherren passten. Was offiziell als Unabhängigkeit daherkam, war mit einem Ballast beschwert, der eine gesamte Weltregion ins Verderben reißen sollte. Weiterlesen

Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (II)

Wörter kennen Temperaturunterschiede – gemessen nicht in Grad, sondern an den Emotionen, die sie begleiten. Es gibt kühle Wörter,  die Nüchternheit und Distanz zum Ausdruck bringen, die auch von Moral-Debatten möglichst großen Abstand halten wollen. Das Wort „Kredit“ zählt zu diesen Wörtern. Und es gibt warme Wörter, die vom Gefühl der Nähe und Geborgenheit, vom Heimeligen begleitet werden. Zu diesen Wörtern zählt die „Hilfe“. Weiterlesen

Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (I)

Langlebige Sätze waren schon immer selten; sie sind es gegenwärtig umso mehr, als sie unter der Masse von dahin geschleuderten Texten zu leiden haben. Nach Sätzen, die Jahrhunderte überdauern können, die ihre Verfasser lange überleben, sucht und fragt in Zeiten von minütlichen Wasserstandsmeldungen und sich gegenseitig übertreffenden Dramatisierungen kaum mehr jemand. Die Resultate des Denkens folgen der Taktung, mit der die Weltereignisse mittlerweile auf die Menschen eindringen – sie werden kurzlebig. Weiterlesen

Die ewige Krise

Ihrer Etymologie nach bezeichnet die Krise den Moment, da eine Entwicklung eine andere Richtung einnimmt, in der sie umschlägt (griech. „κρίνειν“: scheiden, trennen, auswählen, entscheiden). Die Krise führt eine Entscheidung herbei, bietet allerdings noch Möglichkeiten zur Intervention. Ihr kommt eine Latenz zu, die in der Gegenwart eine gestaltbare Zukunft aufscheinen lässt: Die Entscheidung ist fällig, aber noch nicht gefallen. Den Krisen der Gegenwart, die zumeist als gefährliche, als düster ausgemalte Abgründe wahrgenommen werden, ist der Charakter einer Momentaufnahme im Schwebezustand abhanden gekommen Weiterlesen

Alle Macht geht dem Volke aus – zur Krise der EU

Der kindliche, naive Blick auf die Welt übersieht Wesentliches. Er interessiert sich nicht für komplexe Details, möchte stattdessen Grundlegendes erkennen. So ist er vom Expertentum leicht angreifbar, von all den alten Herrschaften, denen es seit jeher die größte Freude bereitet, der Jugend ihre Unwissenheit vorzuhalten. Zugleich allerdings ist der naive Blick selber ungemein angriffslustig, weil er trotz – oder gerade wegen – seiner Abstraktionen mitunter klarer sieht als der streng analysierende Blick. Er kann entlarvend sein, der Finger kann in der aufgedeckten Wunde kindlich-fröhlich herumstochern. Im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise zeigt sich eine klaffende Wunde in Gestalt eines Demokratie-Defizits und zwar sowohl auf Seiten des griechischen Staates als auch im Hinblick auf die EU als Ganzes. Weiterlesen