Nach der Moral wird am Ende gefragt, wenn die Folgen unethischen Verhaltens für jedermann sichtbar sind – das ist ein alter Hut. Als etwa die Kapitalmärkte blühten, in den Jahren vor 2008, hat kaum jemand ethische Abwägungen darüber angestellt, was eigentlich genau in den Banken mit fremder Leute Geld angestellt wird. Derlei Abwägungen hätten das Geschäft ausgebremst, zudem einen stillschweigend eingegangenen Tauschhandel in Frage gestellt.

Wohlstand gegen Moral

Laut Jürgen Habermas ist der Kapitalismus innerhalb einer entwickelten Industriegesellschaft maßgeblich durch ein Tauschgeschäft geprägt. Die wirtschaftliche Ordnung untergräbt traditionelle Werte und Lebensformen und bietet im Gegenzug lediglich „Ersatzstoffe im Sinne von Kompensationsforderungen über immer höhere Einkommen und Statusgewinne“ (Greve, Jens, Jürgen Habermas. Eine Einführung, Konstanz 2009, S. 15). Die Hingabe an das Versprechen auf Wohlstand hat einen Preis. Der Kapitalismus höhlt Werte des menschlichen Miteinanders aus, beraubt sie ihres universalgültigen Anspruchs, indem er sie im Tausch gegen ein mindestens auskömmliches Leben anbietet. Die Werte tummeln sich dann auf jenem Feld, von dem das Wort „Wert“ einst seinen Ausgang nahm – der Ökonomie (vgl. Liessmann, Konrad Paul, Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, Wien 2012, S. 63). Die Menschen haben die Werte mit einem Wert versehen und sich für diesen von ihnen getrennt. Welche Werte hier weggetauscht wurden, zeigen in schöner Regelmäßigkeit wirtschaftliche Krisen, zuletzt die von 2008: Ehrlichkeit, Fairness, respektvoller Umgang, Rücksichtnahme etc. Natürlich sind auch ethische Werte einem kulturellen Wandel unterworfen; was ihr Wesen ist, wie sie zu erreichen sind, steht immer wieder zur Debatte. Prinzipiell allerdings haben sie den Anspruch, eine wesentlich größere Stabilität – sowohl zeitlich als auch räumlich – aufzuweisen als die ökonomische Wertzuschreibung. Dies zeigt sich nicht zuletzt, wenn im Zuge der Krise die versprochene Kompensation in Habermas‘ Tauschgeschäft ausbleibt, die ethischen Werte also ihren Tauschwert nicht realisieren können. Dann ziehen sich die Menschen hastig auf jene Unantastbarkeit der Werte zurück, die sie – ob nun bewusst oder unbewusst – eben noch so willig aufzugeben bereit waren. Wo sind sie hin, der Anstand, die Aufrichtigkeit und die Ehrlichkeit, ist dann die Frage auf Demonstrationen und in Fernsehsendungen. Mit ihnen ist gewuchert worden.

Ihre Universalität ist durch diesen Tausch gebrochen – sie sind nun, durch die Realisation des Tauschs, mit einem Wert versehen, der Schwankungen ausgesetzt ist. Dies ist eine zentrale Einsicht der Marx’schen politischen Ökonomie: Der Wert einer Ware (nichts anderes sind die ethischen Werte in diesem Zusammenhang) bemisst sich an der Quantität der zur Produktion aufgebrachten Arbeit; kommt es zum Tausch wird dieser Wert mit dem Arbeitsquantum einer anderen Ware (also deren Wert) in ein Verhältnis gesetzt. Der Wert ist folglich in zweierlei Hinsicht gesellschaftlich bedingt und damit stetig Veränderungen ausgesetzt – von Seiten der Produktion und (als Tauschwert) im Handel. Deshalb ist etwa die Annahme, es würde ein „der Ware innerlicher, immanenter Tauschwerth“ existieren, für Marx nicht mehr als eine „contradictio in adjecto“ (MEGA II/10, Das Kapital, 1890, S. 39). Deutlicher noch an anderer Stelle: „Es steht (…) dem Werthe nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Werth verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe“ (ebd., S. 73). Im Kapitalismus wird gerechnet – und Zahlen zeigen sich gegenüber der Moral indifferent. Mal gehen sie konform mit ethischen Geboten, ein anderes Mal nicht.

Diese Amoralität des Werts an sich kann an der Ware ‚Arbeitskraft‘ verdeutlicht werden: Ist ihr Wert – also die Quantität an Arbeit, die zur Produktion und Reproduktion des Arbeiters benötigt wird – hoch, so kann sich der Unternehmer als Menschenfreund präsentieren; ist der Wert gering, so erscheint er als Ausbeuter. Was er tatsächlich ist, kann allein aus der Werttheorie nicht abgeleitet werden; sie steht – wie gesagt – außerhalb moralischer Erwägungen. Grundsätzlich wird ein Unternehmer versuchen, Arbeitskraft jeglicher Art so günstig wie möglich einzukaufen; was sie an Mehrwert produziert, behält er ein (an diesem Punkt nun ließe sich sehr wohl unmittelbar mit der Moral intervenieren). Der Unternehmer, der allein aus Herzensgüte Waren unter Wert austauscht oder Arbeitskraft über Wert einkauft, ist im Kapitalismus nicht vorgesehen; er existiert auch nicht, da ihm im Wettbewerb der Garaus gemacht werden würde. Alles, was es hier im Namen der Moral an Eingriffen gegeben hat, ist (wie schon die Formulierung „Eingriff“ nahelegt) von außen gekommen – von einem Wertekanon, der extern zur kapitalistischen Wirtschaft steht, folglich weniger Schwankungen ausgesetzt ist. Eben deshalb ist es fatal, wenn ethische Werte in einen Tauschhandel, wie er oben mit Habermas skizziert wurde, integriert werden. Was als Gebot eigentlich immer und überall zu gelten hätte, steht nun nur mehr relativ zu anderen Dingen, auch relativ zum jeweiligen Pegelstand der Geschichte. Die Moral hat nun einen Wert – wie Strickpullover oder Autos.

Heuchlerische Könige und eine moralresistente Wirtschaft

Wenn es unter diesen Voraussetzungen zur wirtschaftlichen Katastrophe kommt, wie etwa mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, dann hebt ein Wehklagen an, das vorgibt, von Habermas‘ Tauschhandel, von der Entlassung der ethischen Werte in die Amoralität des Warenaustausches nichts gewusst zu haben. Tatsächlich dürfte dieses Klagen größtenteils keine grundsätzlichen Veränderungen intendieren. Der Protest zielt nur in wenigen Fällen auf eine Wiederherstellung der Moral jenseits wirtschaftlicher Belange. Indiz hierfür ist die Tatsache, dass sie erst in dem Moment eingefordert wird, in dem die ethischen Werte ihren Tauschwert nicht mehr realisieren. Die Menschen sind enttäuscht über das schlechte Geschäft, dem sie zugestimmt haben – nicht so sehr über die moralische Verwesung in den Vorstands- und Handelsetagen der Banken und Unternehmen; sie haben grundsätzlich kein Problem mit Finanzprodukten, die zum Nachteil der Kunden entworfen werden; ihr Problem ist, dass sie diesmal selber zu den Benachteiligten gehörten.

Diese Ent-wertung der Moral kann nicht nur am Beispiel der Finanzkrise illustriert werden: Im Betrugsskandal um Volkswagen hüten sich Politiker als auch Teile der Bevölkerung, einen moralischen Standpunkt einzunehmen – für den es wahrlich genug Anlass gäbe: Politik und Kundschaft wurden über Jahre systematisch belogen, die Gesundheit der Menschen ist dem Profit geopfert worden und den Anstand, Verantwortlichkeit einzugestehen, hat so recht auch niemand aufgebracht. Doch der große Protest der Menschen bleibt aus; man lässt sich mit lauen „Dieselgipfeln“ abspeisen, deren Resultat- und Konsequenzlosigkeit augenscheinlich ist. Auch hier kalkulieren die Menschen mit dem Einsatz, den eine härtere Gangart gegenüber VW bedeuten würde – es ginge dann an ihren Wohlstand; und bevor dies geschieht, lässt man den Betrug lieber zu und die Moral fahren. Dies lässt den Schluss zu, dass viele Menschen es vorziehen, in einer Welt des schönen Scheins, in einem Potemkin’schen Dorf zu leben, im Bewusstsein, dass die Kulissen jederzeit zusammenbrechen könnten.

„People wanna live like this with their cars and big fuckin‘ houses they can’t even pay for, then you’re necessary. The only reason they all get to continue living like kings is because we got our fingers on the scales in their favor. (…) They want what we have to give them but they also wanna, you know, play innocent and pretend they have no idea where it came from. Well, that’s more hypocrisy than I’m willing to swallow, so fuck ‘em. Fuck normal people. You know, the funny thing is, tomorrow if all this goes tits up they’re gonna crucify us for being too reckless but if we’re wrong, and everything gets back on track? Well then, the same people are gonna laugh till they piss their pants cause we’re gonna all look like the biggest pussies God ever let through the door“ (Chandor, Jeffrey C., Margin Call, USA 2011). Während die Morgenröte der Katastrophe bereits am Himmel steht, verlassen in Jeffrey Chandors Film „Margin Call“ zwei Angestellte einer Investmentbank Manhattan. In den Bilanzen der Bank hatte ein Risikomanager während der Nacht derart viele faule Immobilienkredite gefunden, dass bei kleinsten Marktbewegungen während des kommenden Handelstages eine Pleite wahrscheinlich wäre. Bei der morgendlichen Fahrt sinnt der Jüngere der beiden Bankangestellten über die ‚normalen‘ Menschen nach, die sich wie jeden Morgen auf den Weg zur Arbeit machen und nicht ahnen, welch ein Desaster dieser Tag für sie bringen könnte. Als er daraufhin die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit in Frage stellt, setzt der ältere Mitarbeiter zu dem zitierten Monolog an. Die Existenzberechtigung für risikobehaftete Geschäfte und damit für Banker wie ihn selber leitet er aus dem Willen der Menschen ab, wie Könige leben zu wollen, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können. Zugleich beschreibt er, wie die Menschen den Tauschhandel leugnen, den sie mit der Bank eingegangen sind. Sie wähnen Werte wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, die sie für ihren geborgten Wohlstand eintauschten, weiterhin auf ihrer Seite. Sie meinen, dies könne ihr Pfand sein, für den Fall, dass die Bank das geleistete Wohlstandsversprechen nicht einlöst. Die Besinnung auf die Werte von einst nimmt ihren Ausgang in der Angst, am eigenen Schuldenberg zu ersticken. Dass die Moral nur mehr ein Schattendasein führt und insbesondere in der Krise keine Konjunktur hat, dass es aus diesem Grund albern ist, sie noch in Gefilden jenseits des Wirtschaftssystems zu vermuten (wo man sie doch selber entfernt hat), zeigte sich unmittelbar während und nach dem Kollaps von 2008. Die Banken unternahmen alles, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem sie versuchten, ihre faulen Papiere abzustoßen – im Bewusstsein, damit weiteren Menschen zu schaden. Gelang dies nicht, konnten sie auf ihre Relevanz für die Gesamtwirtschaft (oder vielmehr: für die echte Wirtschaft) hoffen, sodass der Staat finanzielle Hilfe anbieten musste. Die Steuerzahler, die sie zuvor als Tölpel verspottet und übers Kreuz gelegt hatten, machten die Banken nun erneut zur Geisel und griffen ein zweites Mal in ihre Portemonnaies; wobei die Floskel „Too big to fail“ nicht allein den drohenden Kollaps abwehrte, sie lieferte zugleich einen Persilschein dafür, mit den Machenschaften in Zukunft fortfahren zu können. Exakt dies ist geschehen: Abgesehen von etwas größeren Rücklagen hat sich bei den Banken nicht viel getan; Verantwortlichkeiten konnten in der Vergangenheit nicht festgestellt werden, und auch heute ist es unmöglich, auf den Grund komplizierter Finanzprodukte zu sehen.

Es gibt Stimmen, die behaupten, alles Moralisieren sei in der Wirtschaft im Allgemeinen, in der Bankenbranche im Besonderen ohnehin verloren. Diese Leute verstünden allein die Sprache des Anreizes auf immer größere Gewinne, also müssten ihnen eben solche Anreize geliefert werden, die mit ethischen Maßstäben kongruent (oder annähernd kongruent) sind. Dieser Vorschlag ist lediglich eine abgeschwächte Variante der oben skizzierten Modellierung der Moral für die Funktionsweise der Wirtschaft. Es reicht nicht, das Richtige aus den falschen Gründen zu tun – unter dem Vorwand einer grundsätzlich gierigen Menschennatur oder dem Irrglauben, die Wirtschaft sei angewandte Mathematik, wie es etwa die Werttheorie nahelegt. An ihrem Anfang steht nun einmal der Mensch, und zwar nicht nur als vernunftbegabtes, sondern eben auch als moralisches Wesen, das nicht gezwungen ist, sich mit einer Ethik, die von Geld und Wohlstand gelockt werden muss oder von ihnen unterdrückt wird, abspeisen zu lassen. Es müssen sich unverrückbare Werte melden, wenn es darum geht, nahezu mittellosen Menschen Kredite anzudrehen, diese zu bündeln, mit einem Toprating zu versehen, zu verkaufen und schließlich Wetten auf ihr Platzen abzuschließen, um die Versicherung für den Kreditausfall zu kassieren. Auf diesem Weg bleiben so viele Menschen geschlagen zurück, dass es zum moralischen Imperativ wird, derartigem Vorgehen ein simples „Das macht man nicht!“ entgegenzusetzen. Dasselbe gilt für das Manipulieren von Kursen, für die Beihilfe zum Steuerbetrug, für die mehrfache Rückforderung von Steuern, für das Kassieren von Boni, wenn der Pleitegeier schon über dem Unternehmen kreist et cetera.

Die Zeit, über die Rolle der Moral in der Wirtschaft zu sprechen, ist genau jetzt, in diesem Moment. Allein, es wird nicht getan, weil es verhältnismäßig ruhig geworden ist, weil es am Ende ja irgendwie doch nicht so katastrophal gekommen ist, wie von manch einem geunkt wurde, weil die Menschen schon wieder stillschweigend jenem Tauschhandel zugestimmt haben, von dem Jürgen Habermas sprach. Sie haben eben so wenig gelernt wie die Banken: Aus Schaden klug werden – auch das ist ein alter Hut. Fast so alt wie die Einsicht, am Ende, auf dem Trümmerfeld werde nach der Moral gefragt. Nun, die Menschen sind nicht aus ihrem Schaden klug geworden und auch ihre Fragen nach der Moral haben sie längst schon wieder vergessen.

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