Strafen, die in moralischer Hinsicht einen blinden Fleck haben, aus denen alle Ethik entwichen ist, dominieren, wenn es um Vergehen rund ums Auto geht. Dies lässt sich im Kleinen beobachten, etwa bei Tempoverstößen, als auch bei umfassenderen Straftaten wie den Abgasmanipulationen durch Volkswagen. Die Strafe tritt dann losgelöst neben die Tat, was den Sündern ganz Recht, der Politik scheinbar gleichgültig ist.

Letztlich ist die Einsicht nahe an einer Binsenweisheit: Insbesondere Geldstrafen dürfen nicht zusammenhangslos neben Tat, Bestraftem und Geschädigtem stehen. Sind sie derart abstrakt, drohen sie zur bloßen Gebührenzahlung hinabzusinken, die von vermögenden Menschen (oder Unternehmen) für unrechtmäßiges Verhalten einkalkuliert wird. Die ethische Dimension des Rechts ist dann getilgt, mindestens zurückgedrängt. So ist es etwa bei den im internationalen Vergleich läppischen Geldstrafen für Verstöße gegen das Tempolimit auf deutschen Straßen. Folgt man dem amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel, machen derart niedrige Beträge auf viele Menschen mit gut gefülltem Geldbeutel den Eindruck eines Preises für das Vergnügen eines rasanten Fahrstils. Um exakt dies zu verhindern, ist in Finnland die Höhe des Bußgeldes nicht in einem Katalog festgeschrieben, sondern vom Einkommen des Rasers abhängig. So musste etwa Anssi Vanjoki, ehemals Manager bei Nokia, eine Strafe von 116.000 Euro berappen, weil er mit seiner Harley zu schnell durch Helsinki gefahren war. Da die Strafe nicht nur die Tat, sondern auch die Lebensumstände des Täters berücksichtigt, wird ihre Degradierung zur Gebühr erschwert. Die Ächtung durch die Gesellschaft – Rasen ist falsch, weil es gefährlich ist –, tritt hier wesentlich deutlicher zutage als in Deutschland (vgl. Sandel, Michael J., Was man für Geld nicht kaufen kann, 4. Aufl., Berlin 2012, S. 83 ff.).

Was von Sandel beschrieben wird, fügt sich nahtlos in die Hegel’sche Rechtsphilosophie: Das Gesetz darf nicht formal-abstrakt sein, es muss sich am Einzelfall, an den Handlungen der Menschen formieren und auf diese Weise konkret werden. Aus der Masse des Individuellen kristallisiert sich das Substantielle des Rechts heraus – zunächst als ungeschriebene Norm dann als Gesetz. Kehrt es in seiner Anwendung nicht zum Individuellen zurück, wird dem Täter die auferlegte Strafe als bloßer Zwang erscheinen, den er weder mit seiner Person noch mit der Tat in Verbindung bringt. Sühne und Besserung, auch Vergebung durch den Geschädigten gibt es unter diesen Bedingungen nicht. Die Strafe initiiert keine Veränderung – einer Geldzahlung oder gar dem Absitzen einer Gefängnisstrafe zum Trotz; alles ist beim Alten geblieben, was dem Prozessdenker Hegel quer im Magen liegen muss. Die Strafe ist hier „als etwas schlechthin Endliches, keine Vernünftigkeit in sich Führendes gesetzt, und fällt ganz unter den gemeinen Begriff eines bestimmten Dinges, gegen ein anderes, oder einer Ware, für die etwas Anderes, nämlich das Verbrechen, zu erkaufen ist. Der Staat hält, als richterliche Gewalt, einen Markt mit Bestimmtheiten, die Verbrechen heißen, und die ihm gegen andere Bestimmtheiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preiskurant“ (Georg W.F. Hegel zitiert nach: Bloch, Ernst, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Gesamtausgabe, Bd. 8, Frankfurt am Main 1985, S. 262).

Hegels Ware ist Sandels Gebühr. Um sie zu verhindern, muss die Dialektik in Anschlag gebracht werden: Die Straftat ist Negation des Rechts, die Strafe wiederum Negation der Negation (= der Tat) und damit Wiederherstellung der Freiheit – dies nicht zusammenhangslos als Rückkehr zum status quo ante, sondern unter Verwandlung des Bestraften, der Bestrafenden als auch des Rechts. Der Täter wird sowohl seiner Schuld einsichtig als auch – in der Folge – der Notwendigkeit seiner Bestrafung; sie ist für ihn Befreiung, nicht Zwang; allen Rachegelüsten ist so ein Riegel vorgeschoben; jedes Aufrechnen, etwa in seiner biblischen Form eines ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, ist verhindert. Die Ethik des Rächers, der mit gleicher Münze heimzahlt, ist keine, weil sie nicht nach dem Motiv fragt, weil das Besondere der Tat nicht mit dem Allgemeinen des Rechts vermittelt ist. „[D]ie Rede von der Moralität [verweist] darauf, dass wir von Verbrechen und Strafe im Rechtsinne nur sprechen können, wenn wir zugleich die handlungsleitenden Orientierungs- und Vergewisserungsstrategien des Subjekts fokussieren, d.h. wenn die Umstände und der Bedeutungsgehalt des Konflikts sowie die konkrete Kenntnis des (Un-)Rechts auf den je Einzelnen bezogen werden“ (Zabel, Benno, G.W.F. Hegel. Die Rechtsphilosophie, in: Enzyklopädie der Rechtsphilosophie). Wer die Beweggründe einer Tat außen vor lässt, der kann auch ähnliche Verbrechen in der Zukunft nicht verhindern. Anstatt also eine Befreiung des Täters sowie eine Wiederherstellung des Rechts zu erreichen, ist mit der Rache die Fortsetzung des Unrechts wahrscheinlich. Am Grunde einer solchen Rechtsauffassung blickt einem letztlich ein Menschenbild entgegen, das von der Existenz des grundlos Bösen geprägt ist. Nur wer dieses zum Ausgang seiner Überlegungen macht, braucht keine Fragen zu stellen, kann wegsperren und die Schlüssel fortwerfen.

Jenseits der Bußgelder für Verstöße gegen Tempolimits ist das Recht auch in einem anderen – weitaus umfangreicheren – Fall von der Hegel’schen Befreiung meilenweit entfernt. Seit Bekanntwerden der Abgasmanipulationen bei Volkswagen überführen nahezu alle Handlungen der VW-Verantwortlichen die anfänglich hastig vorgebrachten Entschuldigungen der Pflichtschuldigkeit. Wenn zügig Relativierungen des Betrugs eingeübt werden, wenn jüngst die EU-Kommission abgekanzelt wird, man möge dem europäischen Verbraucher doch bitte nicht die Flause einer Entschädigungszahlung in den Kopf setzen, dann kann von einer Befreiung der Täter nicht die Rede sein. Schon hinsichtlich des ihr vorgeordneten Schrittes, der Negation des Unrechts durch die Strafe, gehen die Maßnahmen gegen VW vollkommen ins Leere: Es mag Geldstrafen in Milliardenhöhe und Umrüstungen der Fahrzeuge geben, dennoch fahren weiterhin Millionen Autos – nicht nur von VW – durchs Land, die täglich gegen die gesetzlichen Schadstoffgrenzwerte verstoßen. „[D]ie Wirklichkeit des Rechts, als eine mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit“ (Hegel, nach Bloch, Subjekt-Objekt, S. 262) ist hier ausgehebelt, da die Verletzung des Rechts überhaupt nicht aufgehoben wird. Stattdessen wird das Unrecht fortgesetzt, derweil die Geldstrafe andernorts vollkommen losgelöst neben der Tat steht. Ginge es nach den VW-Verantwortlichen stünde sie, als Zumutung für den Konzern, gänzlich vor der Tat (dazu unten mehr). Das Gesetz spricht in diesem Fall die Sprache der Wirtschaft – VW bezahlt in den Vereinigten Staaten Milliarden, im Gegenzug bleibt der Marke eine jahrelange juristische Hängepartie erspart.

VW-Werk in Wolfsburg
„Forschung und Entwicklung“ abseits der Gesetze – in der Konzernzentrale von Volkswagen in Wolfsburg wurde der Betrug beschlossen und umgesetzt. Rechteinhaber: Ralf Roletschek, Lizenz: CC by-nc-nd, Original: VW-Werk

Ein weiteres Indiz dafür, dass diese Strafe keinerlei ethische Wirkmacht hat: VW hat sich vor dem Bezirksgericht in Detroit der Verschwörung zum Betrug, der Behinderung der Justiz sowie des Verkaufs von Waren unter falschen Angaben schuldig bekannt. Was sich nach Einsicht und dem Eingeständnis begangener Fehler anhört, mag man in Wolfsburg für Deutschland und den Rest der Welt allerdings nicht wiederholen; obwohl hier nicht anders betrogen wurde als in Übersee und sowohl innerhalb des Kraftfahrtbundesamtes als auch innerhalb der Untersuchungskommission des Bundesverkehrsministeriums Einigkeit über die Illegalität der Abschalteinrichtung herrscht, möchte VW mittlerweile von Manipulationen nichts mehr wissen – mutmaßlich um Sammelklagen zu verhindern.

So erspart man sich den Büßergang, er würde ja doch nur unangenehm werden. Denn ist nicht die Krux, dass eine Befreiung im Hegel’schen Sinne in diesem Fall eine Strafe verlangen würde, die Grundsätzliches mitberücksichtigen müsste? Ist nicht das Motiv untrennbar mit dem Wirtschaftssystem, genauer: mit Profitstreben um den Preis des Betrugs, auch um den Preis der Gesundheit von Mensch und Klima verbunden? Auf derart grundlegende Fragen wird sich jenseits der Linken und Grünen kaum ein Politiker einlassen. Müsste sich doch mit Entwicklungen auseinandergesetzt werden, die die Politik als Dienerschaft der Automobilindustrie erscheinen lassen, die auf demokratiezersetzende Weise privatwirtschaftliche und öffentliche Interessen miteinander vermengen – stets zum Nachteil der letztgenannten. Den Verantwortlichen bei VW ist der Staat, den sie betrügen, abseits der Durchsetzung eigener Interessen so gleichgültig wie die Gesundheit der Menschen, die sie aufs Spiel setzen. Sie verfolgen Ziele, die sich an Gewinn und Verlust, nicht an rechtlichen und moralischen Erwägungen orientieren. Von hier wird ihr betrügerisches Handeln ebenso erklärbar wie die Degradierung jeder Geldstrafe zur Gebührenzahlung.

Es ist erschreckend, wie sehr hierbei Repräsentanten des Staates, insbesondere politische Vertreter der Exekutive, dem Bedeutungsverlust des eigenen Amtes zuarbeiten. Anstatt im Sinne der Bürger zu entscheiden, sind nicht wenige ganz bei den wirtschaftlichen Privatinteressen. Samthandschuhe müssen hier gar nicht erst angezogen werden, sie waren nie abgestreift. Als eine Art klandestiner Staatskapitalismus können diese Entwicklungen bezeichnet werden – zumindest den Anschein von Unabhängigkeit gibt man sich schließlich noch. An seiner Spitze steht unangefochten Alexander Dobrindt. Über die Schreibtische seines Ministeriums gingen Dokumente, die den Betrug belegten, lange bevor dieser öffentlich wurde. Dem herrschenden Klüngel folgend, drangen Mahnungen nicht nach außen; den Bürger direkt zu informieren, wird nicht erwogen worden sein – der Minister weiß, wem er verpflichtet ist.

Nicht besser steht es in dieser Hinsicht um das Umweltministerium: Auch hier war bereits im Jahr 2008 bekannt, dass es bei den Abgastests nicht mit rechten Dingen zuging. Passagen, die auf den Betrug hinwiesen, wurden als „Tretminen“ sorgfältig aus den Berichten entfernt. Die politisch Tatkräftigen holt unterdessen die Realität ein: Vor wenigen Tagen erst begrub Bundesumweltministerin Barbara Hendricks im Bundestag endgültig ihre Idee einer blauen Plakette. Diese sah vor, dass in Innenstädten nach Überschreitung der Grenzwerte nur noch Diesel mit Euro 6-Norm fahren sollten. Nachdem allerdings festgestellt wurde, dass die neuesten Diesel im Realbetrieb teilweise ähnlich schädlich für die Umwelt sind wie die alten mit Euro 5-Norm, waren diese Pläne für die Tonne. Einer sichtlich resignierten Ministerin blieb nur noch, ihrer Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen und eine Art Offenbarungseid zu leisten: Die Hersteller mögen doch bitte freiwillig und kostenlos für den Kunden die Diesel derart umrüsten, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Aus Wolfsburg über Stuttgart und Ingolstadt bis München meint man herzhaftes Lachen vernehmen zu können.

Schließlich noch ein Blick auf die höchste Instanz: Die Kanzlerin persönlich intervenierte mehrfach, sei es in den Vereinigten Staaten oder bei Treffen mit ihren europäischen Amtskollegen, gegen eine Verschärfung der Umweltauflagen für die Autohersteller. Die Beschmutzung eines Amtes konnte wörtlicher nie verstanden werden: Die erste Frau im Staate lässt sich zur Werbebotschafterin für den vermeintlich sauberen Diesel ‚made in Germany‘ degradieren. Ob ihr der Betrug vor dem Herbst 2015 bekannt war, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Es nimmt vor dem skizzierten Hintergrund nicht wunder, warum politische Lösungsansätze für den Skandal oftmals „dicht an der Untätigkeit vorbei[schrammen]“ (Greenpeace-Bericht, Schwarzbuch Autolobby, 04/2016, S. 18). Es erklärt sich auch, warum man sich in den Parlamenten damit begnügt, alle Fragen nach der Verantwortung für das Verbrechen und die Strukturen, die es ermöglichten, unter den Milliarden der Strafzahlungen verschwinden zu lassen. Selbstkritik ist eine wunderbare Einrichtung, solange sich andere in ihr üben.

Wie bereits erwähnt, ist man bei Volkswagen – zumindest was Deutschland und den Rest Europas angeht – längst einen Schritt weiter: Der Betrug war gar keiner – deshalb wird er fortgesetzt. Wer Zweifel anmeldet, für den werden Nebelkerzen gezündet: Jüngst verbellte ein Konzernsprecher, gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Frage, ob Stickoxide in hoher Konzentration gesundheitsgefährdend seien, sei noch gar nicht abschließend geklärt. Hoffnung, derart dreistes Verhalten ausbremsen zu können, machen allein die Verfahren gegen einzelne VW-Manager, die noch bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig anhängig sind. Vielleicht führen persönliche Strafen, die nicht stante pede vom Firmenkonto bezahlt werden, zur Einsicht, dass es falsch ist, Menschen zu täuschen, ihre Gesundheit zu gefährden und die Umwelt zu verschmutzen.

Dieser Hoffnung stehen Vorschläge von anderer Seite entgegen. Dass Blindheit in Sachen Ethik nicht nur in den Konzernen und der Politik verbreitet ist, bewiesen kurz nach Bekanntwerden des Betrugs zwei Wirtschaftswissenschaftler. Axel Ockenfels und Peter Cramton schlugen vor, VW solle zur Kompensation des entstandenen Umweltschadens einfach Emissionspapiere einkaufen. Volkswagens massive Grenzwertverstöße müssten dann von anderen Unternehmen eingespart werden, die dafür entsprechend entlohnt würden. Zwar bestünde ein solcher Markt erst für Kohlendioxid, doch VW könne mit seiner Nachfrage auch einen Markt für Stickoxide schaffen. Wer meint, Dieselfahrzeuge könnten dank eines solchen Mechanismus‘ guten Gewissens weiterhin als Dreckschleudern unterwegs sein, der verkennt, dass das Recht (will es seinen Namen verdientermaßen tragen) nicht ohne die Moral auskommt, die Moral aber sehr gut ohne das Recht – insbesondere, wenn es wie hier zum Unrecht geworden ist. Geht es um Veränderungen, gibt die Ethik den Weg vor – und zwar (wie oben mit Hegel bestimmt) keine individuelle, sondern eine allgemeine: Zuerst gibt es Verschiebungen in den moralischen Vorstellungen der Menschen, dann in den Gesetzestexten. In seiner nachgeordneten Rolle ist das Recht leichter mit Geld zu ersticken, einzelne Menschen setzen dann ihre Interessen gegen den Gemeinwillen durch; obwohl aus dem Gesetzbuch verbannt, hat die allgemeine Moral dennoch einen längeren Atem. Mit ihr lässt sich ein Instrument wie die von den Ökonomen vorgeschlagenen Emissionspapiere ganz grundsätzlich in Frage stellen: Ist es tatsächlich sinnvoll, dass „[d]ie Natur (…) als Müllkippe für diejenigen betrachtet [wird], die es sich leisten können.“ (Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann, S. 97). Noch deutlicher wird die Fragwürdigkeit, wenn Analogien hergestellt werden: Wie weit möchte die Gesellschaft gehen bei der monetären Tilgung der Moral aus dem Recht? Fünfhundert Euro für einen Diebstahl? Ein paar tausend für einen Raub?  Und wie viel für noch Schlimmeres, wenn Körperverletzung bereits heute ihren Preis hat?

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