Frauen nur als Dienstmädchen und Haushälterinnen zu kennen, ist der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern abträglich; ebenso abträglich ist ihr, sie nur als Engel wahrzunehmen, als sanftes (weil schwaches) Geschlecht. Insbesondere die amerikanische Kultur gibt Zeugnisse von letzterer Verzerrung, gespeist aus überbordendem (häufig väterlichem) Beschützerinstinkt, Ritterlichkeit oder der Suche nach einem Anker für das Gute in der Welt. Zwar hält dieser Anker nicht das Gute, wohl aber die Frau an einem Ort; festgelegt und ungehört ist sie so fremder Deutungshoheit nicht weniger ausgeliefert als in ihrer Rolle als Heimchen am Herd.

Unschuld als Belastung

In der Serie Gilmore Girls, produziert in den 2000ern, fixiert eine ganze Kleinstadt eine Heranwachsende in dieser Weise – eine Kleinstadt, deren größten Sorgen sich um die Ausrichtung diverser Feste, die alljährliche Ostereiersuche oder nervtötende Kirchenglocken drehen. Man sieht, die Produzenten der Serie verstanden sich auf ein loses Verhältnis zur amerikanischen Realität, wodurch erst jene Freiräume für die Einwohner Stars Hollows (so der Name des Ortes) entstehen, die eine ausgiebige Beschäftigung mit dem Liebesleben der eigenen Jugend erlauben: Das Dorfjuwel Rory – herzlich, hilfsbereit, eine herausragende Schülerin – hat sich zu entscheiden zwischen dem netten Simpel Dean und dem belesenen Rüpel Jess. Noch mit ersterem in einer Beziehung, lässt sie sich von letzterem im eigenen Auto kutschieren. Gemeinsam haben sie für die Schule gelernt, nun soll es ein Eis geben. Weil Jess einem Tier ausweichen muss, kommt es zu einem harmlosen Unfall – ein angeknackstes Handgelenk, mehr ist nicht passiert. Trotzdem ist der gesamte Ort nun in Aufruhr, will sein Juwel schützen – und lässt es hierüber als stimm- und willenloses Dummchen zurück, das nicht in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu fällen. Da junge Mädchen offensichtlich keine Weitsicht besitzen, sie auch nicht benötigen, weil ohnehin für sie gesprochen wird, muss der Schuldige also zwingend Träger eines Y-Chromosoms sein.

Der Chor, der männliche Schuld und weibliche Unschuld verkündet, ist stimmenreich: Da sind zunächst die Eltern Rorys, die gleich in die Vollen gehen; sie hören nur „Krankenhaus“ und „lädiertes Handgelenk“, da ist die Mutter schon als irrationale Anklägerin, der Vater als unerschrockener Rächer unterwegs – dies zumindest verbal: „Jess hat das Unheil angerichtet. Der kleine Irre (…) hätte heut‘ Nacht um eine Haar mein Kind umgebracht. (…) Jeder im Ort hasst ihn. Jeder wusste, dass er nichts als Ärger bedeuten würde [Jess ist erst kürzlich zugezogen]“ (die Mutter). „Ich brauch‘ unbedingt ein Foto von diesem Jess, sodass ich nicht aus Versehen dem falschen Jungen den Kopf abreiße“ (der Vater), sagts und erntet das bewundernde Lächeln der Mutter; kein in Superheldenpose hingeschleudertes Wort ist harsch genug, um das beinahe ‚getötete‘ Kind vor weiterem Unheil zu bewahren. Wohlgemerkt, die Eltern leben getrennt, und der Vater schafft es ansonsten kaum einmal, ein paar Stunden im Monat abzuzwacken, um sich mit seinem Nachwuchs zu beschäftigen. Doch im Einsatz für das bedrohte Wohl der fast erwachsenen Tochter kann der amerikanische Vater gar nicht genug Engagement zeigen – „overprotective“ gibt das Englische für ein solches Verhalten her.

Bei diesem assistiert der Ort nach Kräften: „Der Junge [Jess] ist eine wandelnde Naturkatastrophe. Es sollte ein Tornado nach ihm benannt werden. (…) Ich weiß, dass du [Rory] auf keinen Fall in eine solche Sache involviert sein würdest“ (der Bürgermeister). Die Sätze hängen allein schon deshalb schief, weil sie ja mit im Auto saß, also sehr wohl involviert war. Ganz davon abgesehen, dass sie Jess die Schlüssel gereicht und einer Verlängerung der Spritztour zugestimmt hat. Ihre Versuche, seiner Verdammung und ihrem totalen Freispruch etwas entgegenzusetzen, verhallen ungehört. Zu vernehmen sind stattdessen die Wahrer ihrer Unschuld, etwa die Nachbarin: „Es ist so schwierig eine Frau zu sein, nicht wahr? (…) Ich meine, du hast deine moralischen Standards und deinen gesunden Menschenverstand – und dann…BAM! – triffst du irgendeinen Typen und all das geht über Bord. Auf jede gute Frau wartet ein schmutziger Wolf, der sie vom rechten Pfad abbringen will. Was kann man da machen? Wir Frauen sind doch auch nicht aus Stahl!“ Ja, was soll Frau da machen – so schrecklich exponiert gegenüber der wölfischen Männerschaft? Etwa der Dinge harren, die da kommen? „She’s such a doll“, urteilt dieselbe Nachbarin gerne über die gute Rory – ein Püppchen also; das muss der Dinge harren, die mit ihm geschehen werden.

Die Reaktionen der Bewohner Stars Hollows auf den Unfall sind deshalb so befremdlich, weil immer davon ausgegangen werden muss, dass insbesondere in populäre Serien reichlich Zeitgeist hineinweht – und auch wieder aus ihnen entweicht. Rory ist bestimmt keine Aldonza, doch in einer Art kollektiven Donquichotterie wird sie vom Ort zur Dulcinea gemacht. Trat vor Jahrhunderten der Ritter von der traurigen Gestalt bereits für ranzige Ideale ein, so schmecken diese heute nur noch abgestanden und schal, bestimmt nicht mehr süß. Dass die Produzenten der Serie verstaubte Geschlechterbilder von anno dazumal wieder hervorkramen, ist auch deshalb verwunderlich, weil die Serie hier in wenigen Folgen einreißt, was sie zuvor mühsam an weiblicher Tatkraft und Selbstständigkeit errichtet hatte. Rorys Mutter bringt sich und ihre Tochter alleine durch, ist erfolgreich im Beruf, macht sich im weiteren Verlauf der Serie selbstständig. Rory ist – wie bereits erwähnt – eine sehr gute Schülerin, die gesamte Ivy League wird ihr später offenstehen. Liebschaften gibt es bei beiden, doch die Männer werden nie zum Gravitationszentrum, ziehen nicht das gesamte Leben an sich, sodass eine totale Abhängigkeit entstünde.

Wie ein solches Dasein aussieht, wird dem Zuschauer nicht vorenthalten: Gewissermaßen als Kontrastmittel erscheint in dieser Hinsicht Rorys Großmutter. Eingeheiratet in reichlich altes Geld, in jene sozialen Strukturen, die einem amerikanischen Adel am nächsten kommen, ist sie vor allem Dekor für ihren Ehemann. Das Leben geht dahin in der Ödnis von ausgerichteten und besuchten Empfängen, im Golfklub und bei Schnatterrunden mit anderen Gattinnen. Einfluss hält allein die Rolle als Haustyrannin bereit; die eigene Frustration kann an den Bediensteten ausgelassen werden. Wie Rory leistet auch die Großmutter irgendwann Widerstand gegen die zugewiesene Rolle – wie bei ihrer Enkelin ist er vergebens. Es gibt kein Entrinnen, vielleicht auch deshalb, weil der Protest stets ein halbgarer bleibt. Es lebt sich dann doch nicht so schlecht als Anhängsel des Patriarchats, respektive als personifizierte Unschuld. Die Serie belässt es bei der Darstellung dieser Widersprüche, sie zieht keine Konsequenzen aus ihnen. Was etwa die Einwohner Stars Hollows über ihre Irrtümer hinsichtlich des Unfalls denken, ob sie ihrer überhaupt einsichtig werden, wird nicht gezeigt. Die Macher opfern eingehendere Reflektionen der (zweifellos erstklassigen) Unterhaltung; und diese braucht letztlich eine heile Welt, in der faulige, weil an Ostern nicht gefundene Eier das drängendste Problem in der Kleinstadt sind.

Um diese heile Welt zu bewahren, gilt es die männliche Gefahr immer wieder aufs Neue einzuhegen: Als Rorys beste Freundin in eine Wohngemeinschaft mit zwei jungen Männern zieht, gerät deren christlich fanatisierte Mutter vollkommen aus dem Lot. Da ist aus dem Ort der Vorschlag zu vernehmen, sie solle sich die beiden Herren doch einfach als weibliche Geschöpfe vorstellen. Man ahnt es: Die Phantasterei genügt, Besuche in der WG sind nun möglich…alles ist gut.

Unschuld als Schleier

Nichts ist gut, sobald es nicht mehr um Eiscreme und harmlose Autounfälle, sondern um Mord, Betrug und Sadismus geht, sobald auch das unterstellte Blütenweiß nicht als Belastung, sondern als willkommene Maskerade begriffen wird. So ist es bei der Figur der Cathy Ames in John Steinbecks Roman Jenseits von Eden. Die kleine Cathy, gerade einmal zehn Jahre alt, liegt mit hochgeschobenem Rock und zusammengebundenen Händen im Wirtschaftsgebäude auf dem elterlichen Grundstück; zwei vierzehnjährige Jungen knien neben ihr. Alles geschieht freiwillig, das Mädchen hatte den Heranwachsenden für die anstehenden Erkundungen je ein paar Cent abgeknöpft. Da platzt Cathys Mutter in die Szenerie, der Fall ist für sie klar: Sie konnte Schlimmeres gerade noch verhindern, nun will sie Blut sehen. „Der Ort, das Land mußten behütet werden“ (Steinbeck, John, Jenseits von Eden, Berlin u.a. 1961, S. 96). Cathy schweigt, überlässt die Jungen den um 1900 in den Vereinigten Staaten herrschenden Moralvorstellungen. Die Verteidigung der Jungen, Cathy habe das Ganze angeleiert und sich für ihre Dienste auch noch bezahlen lassen, vergrößert in den Augen der Erwachsenen nur ihre Schuld: „Mrs. Ames sagte das zuerst, und die ganze Stadt sprach es ihr nach: ‚Soll das vielleicht heißen, daß sie sich selbst die Hände zusammengebunden hat? Ein zehnjähriges Kind?‘“ (ebd., S. 96)

Das sind die bekannten Zutaten: Eine hysterische Mutter, die sich ihre Tochter nur unschuldig vorstellen kann, und ein Ort, der dieses Urteil echoartig verstärkt. Allein, in diesem Fall gibt es keinen Widerspruch (wie bei Rory Gilmore), stattdessen die Erhebung der Rolle als diabolischer Unschuldsengel zum Lebensprinzip. So treibt Cathy in der Folge einen ihrer Lehrer in den Selbstmord, fackelt das Haus der Eltern ab (die in den Flammen umkommen) und bringt Menschen um ihr Vermögen; schließlich landet sie als Ehefrau an der Seite von Adam Trask, einer der Hauptfiguren des Romans. Auch er vermag nicht zu erkennen, wen er sich da eigentlich ins Haus geholt hat: „Was Cathy immer gewesen sein mag, sie hatte in Adam den Strahlenschein der Beseligung ausgelöst. (…) In seiner Seele war ein Bild von Schönheit und von Zärtlichkeit gebrannt, das Bild einer holden Heiligen, einer unausdenklich köstlichen, reinen Liebenden; in diesem Bild sah ihr Mann seine Cathy, und nichts, was Cathy tat oder sagte, konnte das Bild von Adams Cathy verzerren“ (ebd., S. 159).

Von dieser Schimäre mag Adam Trask auch dann noch nicht lassen, als seine Frau ihm in die Schulter geschossen hat und von dannen gezogen ist. Ein paar Orte weiter verdingt sie sich fortan im Bordell, bringt schließlich die Puffmutter unter die Erde und nimmt deren Platz ein. Erst ein späterer Besuch im Etablissement öffnet Adam die Augen, öffnet auch den Söhnen die Augen, denen jahrelang erzählt wurde, ihre Mutter sei tot. Und je weiter die Einsicht um sich greift, Cathy gehöre wohl eher zu den schlechten Menschen, desto kleiner wird ihr Triumph, den sie aus ihren unzähligen Verbrechen gezogen hat: „Sie sahen mich an und meinten, sie wüßten Bescheid über mich. Aber ich hielt sie zum Narren. Jeden einzelnen von ihnen hielt ich zum Narren. Und wenn sie glaubten, sie könnten mir sagen, was ich zu tun habe – ah, dann hielt ich sie am stärksten zum Narren. (…) Sie waren alle so überzeugt davon, recht zu haben. Aber sie wußten nie etwas. Keiner wußte je etwas von mir“ (ebd. S. 545 f.). Das Hochgefühl, das Cathy aus ihren Taten zieht, ist eines der (vermeintlichen) Befreiung – von vorschnellen gesellschaftlichen Etikettierungen, von Menschen, die über sie bestimmen, ihr einen festen Platz zuweisen wollen. Dass sie diese Befreiung tatsächlich überhaupt nicht betrieben hat, da sie schließlich das Bild vom Unschuldsengel zur Tarnung brauchte, dass sie sich folglich ihr eigenes Gefängnis gebaut hatte (dazu passend: der auch bei Tage vollkommen abgedunkelte Raum im Bordell, den sie bewohnt), wird in dem Moment klar, in dem sich ihr Umfeld daran macht, ihre Maskerade tatsächlich zu lüften. Nichts trifft sie mehr als die Reaktion des Sohnes auf ihr Leben im Dunkeln: „Ich glaube nicht daran, daß das Licht deinen Augen weh tut. Ich glaube, du hast Angst“ (ebd., S. 547).

„Du kannst“, es gibt eine Wahl, keinen Determinismus im Leben – diese Botschaft ist zentral für Steinbecks Roman, abgeleitet aus der Genesis, als Gott Kain nach dem Grund seines Zorns fragt. „Du kannst“ ist die Antwort – du kannst dich entscheiden für das Gute oder das Schlechte. Will der Erzähler für Cathy Ames zunächst noch das Gegenteil geltend machen (vgl. S. 90 ff.), hatte auch sie letztlich eine Wahl, war nicht durch das Schicksal oder andere (höhere) Mächte auf ihren Weg festgelegt. Selbstbestimmt einen eigenen Weg gehen zu können, macht Abwägungen notwendig und die Existenz des grundsätzlich Guten und eines ebensolchen Schlechten unwahrscheinlich. Menschsein bedeutet, die Anlage zu beidem zu besitzen und sich entscheiden zu können – das gilt sowohl für den Mann als auch für die Frau.

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