Wer nicht arbeitet, obwohl er oder sie könnte, macht sich moralisch schuldig. Das ist gesellschaftlicher Konsens. Zum Selbsterhalt, auch zum Erhalt der Annehmlichkeiten, die einen umgeben, ist Arbeit notwendig. Gemeinschaftlich unternommen stiftet sie Gemeinsinn, der wiederum Quell des moralischen Imperativs ist: Jeder leistet seinen Teil an Arbeit, um im Gegenzug seinen Anteil am Erarbeiteten zu erhalten – so viel zum gerechten Idealzustand.

Nun hat diese Gerechtigkeit allerdings reichlich Schrammen – historische wie gegenwärtige. Der antike Sklavenhalter als auch der mittelalterliche Grundherr haben mit fremder Leute Arbeit nicht nur für ihren Selbsterhalt gesorgt, sondern ein Leben in materiellem Überfluss geführt. Eine größere ‚Gerechtigkeit‘ schlug in diesen Fällen die gewöhnliche aus dem Feld; sie hieß hohe Geburt, Gottesgnadentum oder schlicht zivilisatorische Überlegenheit. Was der Sklave oder der Leibeigene zum Leben brauchte, wurde ihm als milde Gabe in Gestalt von Naturalien oder Almosen überlassen.

Im Kapitalismus steht an ihrer Stelle der Lohn. Er ist für den Arbeiter das Mittel zur steten Reproduktion seines Daseins. Bedrängt wird er nicht mehr von Göttern, die vorgeblich sein Schröpfen gutheißen, sondern vom Besitz an den Mitteln zur Produktion, der in wenigen Händen gebündelt ist. Und wer Besitz bündeln, raffen und halten muss, der kann keinen anderen Handschlag nebenher tun. So wird sich beschränkt aufs Organisieren und Wirtschaften, ergo aufs massenhafte Ausbeuten von Arbeitskraft und das Aneignen des Mehrwerts dieser Arbeitskraft. Gemeinschaftliche Produktion bei privater Aneignung – so heißt bereits seit Jahrhunderten, allen sozialen Errungenschaften zum Trotz, die kapitalistische Entstellung der eingangs beschriebenen Gerechtigkeit. Alte Kamellen, die nicht oft genug gereicht werden können.

Wie glaubwürdig aber kann nun die moralische Pflicht zu einer Art von Arbeit sein, deren Erträge nur zu einem Bruchteil der Gemeinschaft zugutekommen? Sie wird im Kapitalismus von ihren größten Profiteuren ad absurdum geführt; sie verzwergt angesichts der Tatsache, dass für den Selbsterhalt der Massen nur die Krumen des Arbeitsertrages aufgewendet werden (Jeder Oxfam-Bericht zur Vermögensverteilung gibt von diesem schreienden Unrecht jährlich Kunde. Kurz ist die Aufregung, ausbleibend jede Konsequenz). Hierin verbirgt sich zugleich eine Crux: Zwar kann in einem grundsätzlich ungerechten Arbeitsverhältnis die Moral nicht mehr umfänglich in Anschlag gebracht werden, doch liegt eben auch derjenige, der behauptet, Lohnarbeit trage die Gesellschaft, nicht gänzlich falsch. Auf ihrer Schwundstufe, mit reichlich ramponiertem Antlitz ist die Moral noch leidlich intakt. Wer am Erhalt des Status quo interessiert ist, macht aus diesem Zwerg sogleich einen Elefanten, lässt den moralischen Zwang zur Arbeit zum Gassenhauer werden und den Arbeitslosen als schädlichstes Gesellschaftselement von allen identifizieren. Dabei gilt doch eigentlich: Was am oberen Ende ungerechterweise als Jahressalär eingestrichen wird, können mitunter tausende Jahre an Hartz-4-Bezug nicht aufwiegen. Dennoch, die Mehrheit der Menschen würde die ‚Sozialschmarotzer‘ wohl in der Hochhaussiedlung, nicht im Villenviertel suchen.

Wer auf diese harten, materiellen Tatsachen und ihre moralischen Implikationen aufmerksam macht, sieht sich zumeist mit weiteren Entstellungen konfrontiert: Man sei doch eigentlich nur neidisch auf die Vermögenden, solle doch bitte seinen Pessimismus für sich behalten, nicht sein Umfeld damit anstecken und überhaupt sei es doch um Menschen in anderen Erdteilen noch viel schlimmer bestellt. Man merke: Arm ist der Kleinmütige, reich der entschieden Zupackende und den Klimmzug zum Wohlgefühl soll der in prekären Verhältnissen lebende Europäer am hungernden Afrikaner machen. Winzig klein ist die Moral in einer derart zurechtgeschusterten Welt.

Die Verkleinerung der Moral hat nicht allein Auswirkungen auf die Frage nach der Pflicht zur Arbeit, sondern auch auf ethische Aspekte, die mit einzelnen Berufen einhergehen. Denn toleriert wird im Kapitalismus vornehmlich Arbeit, die im wirtschaftlichen Sinne produktiv ist oder mindestens die Rahmenbedingungen für die Produktivität herstellt. Diese Forderung untergräbt berufliche Sinnhaftigkeit fern des Ökonomischen; auch hier kommt es folglich zu Verzwergungen. Für den oben beschriebenen, durch Arbeit entstehenden Gemeinsinn sind etwa Juristen, Ärzte, Journalisten oder Wissenschaftler unersetzlich. Dieser sollte eigentlich abseits von Produktivitäts- und Profitfragen stehen. Doch können sich diese Berufe einer ‚kapitalistischen Kontamination‘ nicht entziehen: Der Radikalität einer Publikation wird vom Werbemarkt (bei drohender Strafe des ökonomischen Untergangs) der Stachel abgebrochen, der Arzt ist immer auch im Maschinenraum des Wirtschaftssystems tätig, die Ware Arbeitskraft wieder verkaufsfähig machend, der Jurist tritt auch als Verteidiger ungerechter Eigentums- und Verteilungsverhältnisse auf – aber all dies gilt eben (wie bereits die Entstellung der moralischen Pflicht zur Arbeit) nicht absolut. Es sind andere Maßstäbe denkbar – und in Anwendung: die Wahrheit um jeden Preis für Journalisten und Wissenschaftler, die Wiederherstellung der Genussfähigkeit (anstatt der Erwerbsfähigkeit) des Patienten für den Arzt, Gerechtigkeit fern ihrer kapitalistischen Verhunzung für den Juristen. Diese Maßstäbe zu stärken, würde helfen, den Kontrast zur moralischen Schieflage des Wirtschaftssystems als Ganzem stärker hervortreten zu lassen. Was an Ethik (noch) übrig ist, würde als Zwerg erkennbar werden.

Dies nicht nur in Bezug auf die Arbeit, sondern auch in Sachen Demokratie. In ihr schrumpfen dank kapitalistischem Einfluss die großen Worte (Freiheit, Gleichheit, wiederum Gerechtigkeit etc.) zusammen. Sie halten es im Gesellschaftlichen nicht aus, verkriechen sich in Nischen, etwa ins Private. „In jeder urwüchsigen Demokratie ist ein (…) gesellschaftlicher und moralischer Einklang zwischen öffentlichem und privatem Leben eine Selbstverständlichkeit. Durch Feudalismus und Kapitalismus wird jedoch dieser Zusammenhang zerstört; es entsteht sowohl die gesellschaftliche Wirklichkeit als auch die Lehre von der doppelten Moral, der Unmöglichkeit, den utilitaristischen Amoralismus der Herrschaft mit der rein privat und darum kleinlich gewordenen individuellen Moral in Einklang zu bringen“ (Georg Lukács, Die Grablegung des alten Deutschland. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, Neuwied 1967, S. 51 f.). Das behandelte Problem einer verzwergten Moral zeigt sich hier in kaum fassbarem Ausmaß. Beispiele, die es belegen, sind Legion:

Da ist der sozialdemokratische Kümmerer, der im Wahlkampf, konfrontiert mit der Lebenssituation von Putzkräften oder Altenpflegern, beteuert, er werde sich da einmal umhören. In der Folge lindert er öffentlichkeitswirksam den Einzelfall, lässt die Übel im Grundsätzlichen jedoch unangetastet; da sind die kleinen Leute, die unbedacht Gesetze übertreten – an ihnen tobt sich der Rechtsstaat (der ja gerade in aller Munde ist) aus, derweil die Betrüger aus der Automobilindustrie, steuerhinterziehende Millionäre und Milliardäre und verfassungsbrechende Schlapphüte aller Enthüllungen zum Trotz weitgehend ungestört ihrer Wege gehen; der Staat buckelt, dienend bis zur Selbstabschaffung (auf jedem durchschnittlichen Schulhof, ausgestattet mit ausreichend sozialem Instinkt, hätten Wendehälse wie Alexander Dobrindt oder Andreas Scheuer wohl längst eine Abreibung kassiert. Nach den Schwachen treten und die schäbigen Starken umschmeicheln, soll mancherorts noch als Todsünde gelten, nicht so unter Christsozialen, denen es gelingt mit wenigen Worten Verrat am Christlichen und am Sozialen zu begehen); da ist, um mit den Beispielen fortzufahren, der fassadenerklimmende Flüchtling von Paris, der ein am Balkon baumelndes Kleinkind rettet. Der sichere Aufenthaltsstatus ist ihm gewiss, ebenso wie ein Job bei der Feuerwehr. Überbordende Mildtätigkeit tobt sich hier am (zweifelsfrei vorbildlichen) Individuum aus, um im großen Ganzen eine umso rigidere Politik der Abschottung durchzusetzen; da sind schließlich zwei Nationalspieler, die sich berechtigterweise Kritik ausgesetzt sehen, weil sie sich für die Propaganda eines Diktators im Werden einspannen ließen. Doch auch in diesem Fall ist die moralische Keule letztlich ganz klein. Zur Erinnerung: Die deutsche Wirtschaft macht allen autokratischen Tendenzen zum Trotz prächtige Geschäfte mit der Türkei, der deutsche Staat segnet den Verkauf von Leopard-Panzern ab, mit denen die Türken auf die Kurden losgehen, die wiederum vor kurzem noch von Deutschland mit Waffen ausgerüstet wurden, damit sie als nützliche Idioten den IS aufhalten. Deutsche Dankbarkeit und Anständigkeit haben ganz offensichtlich ihre Grenzen beim Geldverdienen. Medial ist diese ungeheuerliche Widersprüchlichkeit kaum mehr als eine Randnotiz. Für den Fußball gilt nichts anderes: Wenn Reinhard Grindel immer wieder salbungsvoll von den Werten des DFB spricht, soll dies nur überdecken, dass es seinem Verband tatsächlich nur um einen Wert geht – den des Geldes. Wer also Özil und Gündogan anprangert (aus den richtigen Gründen – den politischen, nicht den nationalistischen), darf über Uefa und Fifa, über den DFB (samt seiner gekauften WM) und Weltmeisterschaften in Russland und Katar nicht schweigen. Doch auch hier flüchtet die Moral ins Partikulare. Es wird entschieden auf den Einzelfall abgehoben, um die Schieflage im Ganzen zu verschleiern.

Um auf den Weg einer Besserung zu gelangen, bleibt auch in den genannten Fällen nur ein Hochhalten der Moral im Kleinen, um ihren Missbrauch im Großen umso deutlicher kenntlich machen zu können. Dies darf nicht die Art der Konzentration auf den Einzelfall sein, die von den Feinden der Moral und der Demokratie betrieben wird, sondern eine, die verdeutlicht, dass das einzelne Gute eben nicht das Einzelne eines allgemein Guten ist; ebenso wie das einzelne Schlechte nicht vor dem Hintergrund eines allgemein Guten besonders herabfällt. Wie verzwergt sie auch daherkommen mag: Wo die Moral noch Geltung besitzt, kann sie zugleich Kraft zur Regeneration schöpfen. Nur so gelingt der Blick auf den Boden jenes Widerspruchs zwischen der Existenz der Moral im Kleinen und ihrer Auslöschung im großen Ganzen; und auf diesem Boden zeigt sich, seit langer Zeit schon, der Kapitalismus. So würde die Moral zwar die Bedingungen ihrer eigenen Entstellung nicht aufheben, aber diese erhellen und klar hervortreten lassen, das täte sie dann sehr wohl.

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