Geschichte wiederholt sich nicht, niemals. Doch strukturelle Ähnlichkeiten gibt es sehr wohl, sodass der Hegel’sche Satz, das Einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass noch nie etwas aus ihr gelernt wurde, nicht zwangsläufig wahr sein (oder: bleiben) muss. Ohne mit einem neuen konfrontiert zu sein, lassen sich etwa in Sachen diplomatischer Entspannung sicherlich Lehren aus dem (alten) Kalten Krieg ziehen; ohne aus einem Zuckerberg einen Rockefeller zu machen, lohnt in der Frage, wie mit allzu mächtigen Unternehmen umzugehen sei, bestimmt auch ein Blick auf die vorletzte Jahrhundertwende; ohne schließlich Nazi zu sagen und die AfD samt Anhänger zu meinen, kann auch der Rückblick auf die 20er und 30er Jahre, auf den Aufstieg der Rechten und die Schwäche der Linken, erhellend für die Gegenwart sein. Wie gesagt: Zwingend ohne auch nur die Andeutung, in Gauland den Gröfaz und in Höcke den Goebbels erkennen zu wollen. Dies wären unzulässige Abkürzungen, die die Geschichte zu leicht und die Gegenwart zu schwer nähmen.

Ungleichzeitigkeit damals…  

Was sich bei letztgenanntem Beispiel nun an struktureller Ähnlichkeit zeigt, erfasst am besten ein Begriff des Philosophen Ernst Bloch – und zwar der der Ungleichzeitigkeit. Alle Menschen teilen miteinander die Sekunde, die ihnen gerade schlägt; doch im Sozialen, in den Lebensumständen, vor allem auch in den Vorstellungen und Überzeugungen, die aus den je unterschiedlichen Lebensumständen erwachsen, kann diese Gleichzeitigkeit gebrochen sein. Im marxistischen Anschluss an den historischen Materialismus verstand Bloch die Ungleichzeitigkeit zuvorderst klassenhaft: Kapitalist und (klassenbewusste) Arbeiter leben, sofern beide der gesellschaftlichen Widersprüche einsichtig sind, in Gleichzeitigkeit. Ein Bauer hingegen, gebunden an die Scholle, die Produktionsmittel noch in den eigenen Händen, hat mit dem städtischen Kleinbürger, auch mit dem Proletarier nur wenige Berührungspunkte; sie teilen zwar das Jetzt miteinander, leben aber dennoch in ganz unterschiedlichen Zeiten. „[A]uf dem Land gibt es Gesichter, die bei all ihrer Jugend so alt sind, daß sich die ältesten Leute in der Stadt nicht mehr an sie erinnern. Treibt Elend oder bequemere Gelegenheit in die Fabrik, so ist doch ein bäurisches Sprichwort: Arbeit taugt nichts, zu der man gepfiffen wird; gerade der Kleinbauer denkt so, auch wenn er vorher nicht viel besser gelebt hatte als sein Knecht“ (Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit, GA Bd. 4, Frankfurt a. M. 1985, S. 106).

Das Zitat fasst nicht allein zusammen, es fängt auch den Antikapitalismus ein, der trotz aller Ungleichzeitigkeit im Bauerntum umgeht – nicht als begrifflich exakt erfasster, sondern als ein unreflektiert-diffuser. Das Beharren aufs eigenständige Schaffen, auf eigenem Grund und Boden, mit den eigenen Gerätschaften steht vollkommen über Kreuz mit Kapitalinteressen. Simpler: Eine mit Selbstbewusstsein ausgestattete Bauernschaft wird sich noch mit der Mistforke gegen jede Form der (direkten) Lohnabhängigkeit wehren. Was hier an unpräzisem Antikapitalismus unterwegs ist, braucht laut Bloch eine besondere, eine auf diese Lebensverhältnisse zugeschnittene Ansprache von links, um diese Menschen für das eigene Anliegen gewinnen zu können. Dies könne nicht derselbe Text sein, mit dem man den Fabrikarbeiter oder den Kleinbürger zu mobilisieren versuche. Als polyrhythmisches Gebilde verlange die Geschichte nach einer mehrschichtigen Dialektik; für vulgärmarxistische Simplifizierungen ist hier kein Platz. An der Aufgabe, eine adäquate, Ungleichzeitigkeiten berücksichtigende Propaganda zu finden, sind die Sozialdemokraten und Kommunisten der 20er und 30er Jahre gemäß Bloch krachend gescheitert. Man war zu sehr mit sich selber beschäftigt, rieb sich auf in Grabenkämpfen und Absplitterungen, schob einander die Verantwortung für Fehler aus der Vergangenheit zu (Erster Weltkrieg, Räterepublik etc.) – bereits an diesem Punkt sollte die Melodie der Geschichte sehr gegenwärtig klingen.

…und ihre Instrumentalisierung von rechts

So wurden ganze Bevölkerungsgruppen links liegen gelassen, sodass die Nazis – wie Bloch es formulierte – Beute machen konnten an unruhig gewordenen Menschen. Wichtig (gerade auch für den Brückenschlag in die Gegenwart) ist nicht nur dass, sondern auch wie diese Beute gemacht wurde: Die NSDAP bediente sich vor allem von links erprobten Mitteln der Mobilisierung. Zunächst nahm man die rote Farbe und besudelte sie mit dem Hakenkreuz, dann rief man zum Aufmarsch und ließ eingängige Lieder singen; auch schämte man sich nicht, die Bezeichnung Arbeiterpartei im Namen zu führen. Die Interessen des kleinen Mannes hießen fortan Kriegswirtschaft und Judenvernichtung (vgl. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 70 ff.).

Der Etikettenschwindel verfing. Bei Gelegenheit eines Interviews, abgedruckt in den 70er Jahren im Kursbuch, machte Bloch den Aufstieg der Rechten bei (und wegen) gleichzeitigem Versagen der Linken an einem Beispiel deutlich. Kurz vor der Machtübernahme Hitlers besuchte Bloch eine Veranstaltung im Berliner Sportpalast; es traten ein Nazi und ein Kommunist auf. Letzterer begann zu sprechen und verlor sich in marxistischem Fachchinesisch, redete von der Profitrate und der Werttheorie, bis auch der Letzte nur mehr mit einem Ohr zuhörte. Der Applaus war pflichtschuldig. Dann trat der Nazi ans Mikrofon, dankte artig seinem Vorredner und verband schließlich in nur wenigen Sätzen die vollkommene Entstellung des Kommunismus mit der Werbung für die eigene Sache: Zahlen, Zahlen, nichts als Zahlen habe sein Vorredner gerade präsentiert, womit von unerwarteter Seite eine Weisheit des Führers bestätigt werde: Kapitalismus und Kommunismus seien doch letztlich zwei Seiten einer Medaille (vgl. Bloch, Ernst, Tendenz-Latenz-Utopie, GA Erg.-Bd., Frankfurt a. M. 1985, S. 211 f.). Für die derart prägnant Belogenen fällt nun Gegensätzliches in eins, der Antikapitalismus des Kleinbürgers beschränkt sich fortan darauf, den Juden als Wucherer zu erschlagen, und der Bauer setzt neben das Beharren auf den eigenen Boden das aufs eigene Blut. Die Scholle kann sich nun auch in der Ukraine oder in Polen befinden, im Reiche der rassisch Minderwertigen.

Ein vulgärmarxistisches Verbeißen in die vermeintlichen Naturgesetze der Ökonomie machte blind gegenüber dem Verlangen der Jugend nach Risiko und Gefahr als auch gegenüber den Ängsten und Hoffnungen einer wirtschaftlich zusehends bedrängten Mittelschicht. Auch der Anschluss des Nationalsozialismus an die Religion musste von einem solchen Standpunkt aus übersehen werden – etwa wie sich Hitler und seine Schergen in die christliche Lehre von den drei Reichen einschrieben: Auf das Evangelium des Vaters (Altes Testament) und das des Sohnes (Neues Testament) folgte nun nicht mehr das des Heiligen Geistes, sondern das Dritte Reich der NSDAP. Ein tausendjähriges Bestehen ist ihm von seinen Anhängern prophezeit worden – auch diese Zahl klaubten die Nazis aus der Bibel. In der Offenbarung an Johannes (20, 4) wird verkündet, wie die Gerechten, nach ihrer (ersten) Auferstehung, tausend Jahre gemeinsam mit Christus herrschen werden. Jene Bibelstelle handelt folglich von einem Reich der Freiheit und Gerechtigkeit, derart ist sie in der Geschichte verstanden worden (vgl. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 132-140). Die Nazis nun nutzten diese Assoziationen und verdrehten sie im Sinne ihrer faschistischen Ideologie.

Soweit das Resultat in den 30er Jahren, als man von links kein Quartier bezog in den Ungleichzeitigkeiten der Deutschen, Begriffe wie Volk, Führer und Drittes Reich den Nazis und ihren Verdrehungen und Lügen überließ, als man sich darauf beschränkte, den Randständigen ihre Irrationalität vorzuhalten anstatt diese zu ergründen, allen anfänglich vorhandenen Antikapitalismus ignorierend.

NSDAP Versammlung im Sportpalast 1930
Ein Ort, an dem die Nazis reichlich Beute machten – der Berliner Sportpalast bei einer Veranstaltung der NSDAP im Jahr 1930. Lizenz: CC by-sa 3.0, Rechteinhaber: Bundesarchiv, Original

Ungleichzeitigkeit heute…

Geschichte wiederholt sich nicht, doch jener Antikapitalismus scheint durch die Jahrzehnte gewandert zu sein (und sollte nicht erneut ignoriert werden). „Die Zeit fault und kreißt zugleich“, schrieb Bloch im Vorwort zu Erbschaft dieser Zeit (Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 15); das gilt auch für die Gegenwart. Natürlich gibt es bei AfD und Pegida – sowohl was das politische Personal als auch was die Anhängerschaft angeht – genug Rassisten, doch eben auch viele Menschen, die noch nicht einmal abgehängt sind durch die Globalisierung, sondern schlicht ein Unbehagen an ihr spüren, das problemlos antikapitalistisch genannt werden kann. Diese Menschen sehen ihr kleinstädtisches oder dörfliches Leben bedroht, sehen zuerst Post, Bank und Tante-Emma-Laden, schließlich auch die eigene Jugend verschwinden. Ihnen ist eine rustikal eingerichtete Dorfkneipe mit bodenständig-heimeligem Namen im Zweifelsfall näher als jedes Szenelokal oder gar die Starbucks-Filiale. Wer nun aber „Zur Eiche“ oder „Zur Linde“ einkehrt, der hat in den Augen einiger, die sich heute links nennen, mindestens den halben Weg zum Nazi bereits zurückgelegt. Doch allein das Beharren aufs Eigene, nicht selten auch mit Deutschlandfahne im Garten, macht einen noch nicht zum Nachfolger von Massenmördern. Man kann berechtigterweise darauf hinweisen, dass ein solches Leben im kleinen Radius schon so manche Intoleranz und Kleingeisterei hervorgebracht hat; darauf, es deshalb pauschal und hochmütig abzuurteilen, sollte man allerdings nicht verfallen; zeigt es doch zunächst einmal unreflektierten Widerstand an gegen eine kulturelle Gleichmacherei im Namen des Kommerzes, die alle Unterschiede auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenschrumpfen lässt. Es gibt Menschen, die können mit der weltumspannenden Uniformität von Sprachgewohnheiten, Dresscodes, Unterkünften, Innenstädten, Flughäfen, mit dem ‚globalen Dorf‘ also, das alles ist, aber bestimmt kein Dorf, auch mit der Möglichkeit, in der Fremde über Eigenes verfügen zu können (und sich derart gegenüber echt Fremdem zu verschließen) schlicht nichts anfangen. Tritt zu diesem Unbehagen noch wirtschaftliche Drangsal hinzu, fällt das Beharren aufs Eigene zumeist umso vehementer aus. Zu strammen Patrioten werden die Wenigsten aus Überzeugung, sondern aus Verzweiflung.

Zu zeigen, dass diese rasende Entwicklung auf kapitalistischen Füßen unterwegs ist, wäre Aufgabe der politischen Linken. Sie könnte Kapital schlagen aus diesem ungleichzeitigen Widerspruch zum herrschenden Wirtschaftssystem. Dies hieße (um nur Einiges zu nennen): dem kleinstädtischen und ländlichen Raum mehr Aufmerksamkeit schenken, die aberwitzige Macht der Unternehmen thematisieren, ökonomische Fehlentwicklungen (Forderung von immer mehr Flexibilität, Notwendigkeit von Doppelverdienst, Verschwinden kleinerer Wettbewerber etc.) nicht wie Naturereignisse behandeln, die Politik aus ihrer Rolle als Administration von Wirtschaftsinteressen befreien, Steuerbetrug energisch bekämpfen, den auf Radikaldiät gesetzten Mittelstandsbauch in den Blick nehmen, Armut in einem der reichsten Länder der Erde als Realität anerkennen. Mehrheiten bei Grünen und Sozialdemokraten sind für diese Aufgabe wohl verloren, wollen sie doch nicht (mehr) über Grundsätzliches nachdenken, sondern nur mehr vermeintlich Unumgängliches vorsichtig begleiten. Also ignoriert man die Aufbegehrenden, beschimpft sie oder verpasst ihnen das Etikett ‚besorgte Bürger‘ – ganz so, als spräche ein Vormund über geistig Entrückte. Begleitet wird die Ansprache von oben stets vom eindeutigen Fokus auf die rassistischen Provokationen einiger weniger Rechter. Dabei ist es eine so einfache Übung, Gauland, Höcke und Co ihre fremdenfeindlichen Aussagen nachzuweisen – und gerade deshalb wird sich ihrer befleißigt, denn das befreit davon, die Probleme derjenigen in den Blick nehmen zu müssen, die sich von Rassisten offenbar besser repräsentiert fühlen als von den Politikern der sogenannten etablierten Parteien; auch befreit das Abarbeiten am Offensichtlichen davon, Fehler der Vergangenheit zu reflektieren.

Die SPD könnte an ihrer Blindheit gegenüber der Tatsache, seit knapp zwei Jahrzehnten kaum mehr sozialdemokratische Politik betrieben zu haben, tatsächlich zugrunde gehen. Auf den Grund der Probleme gelangt die Partei nicht, man ist – wie es Bloch für die 30er Jahre formulierte – schon wieder (oder immer noch?) als „Radieschen [unterwegs], außen rot, innen weiß“ (Bloch, Ernst, Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. M. 1985, S. 87). Die Grünen haben da mehr Zukunft: Insbesondere in den Großstädten ist genug Bürgertum unterwegs, das sich der Einsicht in den Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaftsweise und Umweltzerstörung gerne verweigert (oder ihn tatsächlich nicht sieht), das meint im Jutebeutel vom Bio-Supermarkt das bessere Leben nach Hause tragen zu können. Dass hier nur ein Anfang gemacht ist, mag ihnen nicht aufgehen. Der neue Parteivorsitzende beteuerte jüngst in einem Interview, auch der Aldi-Einkäufer dürfe den Grünen nicht fremd sein. Da sprach wohl das letzte Bisschen linker Gründergeist, das noch nicht aus der Partei entwichen ist. Bleibt noch die Linkspartei, die jedoch zu viel Energie verbraucht im Kreisen um sich selber. Man ist sich spinnefeind im Vorstand. Eine der Vorsitzenden will nun eine Sammlungsbewegung initiieren, dabei immerhin die an die Rechten verlorenen Wähler fest im Blick. Bleibt die Frage, ob Sahra Wagenknecht, die immer ein wenig so wirkt, als wäre sie am liebsten nie hinter ihren Büchern hervorgekommen, fürs Einsammeln die beste Wahl ist. Auch läuft dieser Lichtblick unleugbar Gefahr, mit der fremden Angelegenheit (dem Nationalen, dem kulturell Eigenen) nicht nur anzutreten, sondern auch bei ihr steckenzubleiben anstatt mit der eigenen Angelegenheit (eben linker Politik) abzuziehen.

…und ihre Instrumentalisierung von rechts

Fest steht, dass das Feld der Ungleichzeitigkeit auch in der Gegenwart zu lange unbestellt von links blieb, größtenteils noch heute nicht beackert wird. In dieses Vakuum stieß die Neue Rechte, in deren Fahrwasser Pegida, AfD und auch die Identitären unterwegs sind. Wie Thomas Wagner in seinem akribischen Fußnotenungeheuer Die Angstmacher darlegt, ist den Rechten hierbei das Anknüpfen an Kritik am ökonomischen Status Quo beileibe nicht fremd. Dies zeigt sich etwa, wenn Götz Kubitschek über ethnischen Pluralismus und dessen Unverträglichkeit mit der gegenwärtigen Wirtschaft spricht: „Wichtig ist, dass Leute Dinge machen (…), ohne dass man ihnen dabei zuguckt oder weil sie damit Geld verdienen wollen (…). Für die globale Wirtschaft ist es schwierig, einheitlich zu produzieren, wenn die Konsumgewohnheiten nicht einheitlich sind, weil die Leute anders leben wollen und den Einheitsbrei nicht gewohnt sind, der ihnen angeboten wird“ (Götz Kubitschek, zitiert nach: Wagner, Thomas, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017, S. 83). Kaum ein Linker, der hier ernstlich widersprechen würde. Zuweilen geht es noch konkreter antikapitalistisch zu im Nationalen der Gegenwart. So bei Benedikt Kaiser, Lektor in Kubitscheks Verlag, der sich des analytischen Werkzeugs marxistischer Schulen bedient, zugleich die Denkfaulheit einiger seiner Gesinnungsgenossen beklagt, die „ein komplexes Gefüge wie den warenproduzierenden Kapitalismus und dessen bürgerliche Gesellschaft durch das Feindbild ‚Jude‘“ (Kaiser, zitiert nach: Wagner, Die Angstmacher, S. 258) erklären wollen.

Hier nun liegt zugleich der Hund im rechten Lager begraben:  Zu viele seiner Parteigänger biegen von der ökonomisch-gesellschaftlichen Analyse zu voreiligen Schlussfolgerungen und einfachen Erklärungen, zuweilen auch zu bewussten Verdrehungen und Unwahrheiten ab. Was einst der Jude war, ist heute vor allem der Flüchtling. Stehe er erst einmal jenseits der Landesgrenzen, so sei auch der Sache des Kapitalismus nachhaltig geschadet, da dieser dann seiner Lohndrücker beraubt sei – derart schlicht geht es argumentativ bei Martin Sellner zu, einem Kopf der Identitären Bewegung Österreichs. Von diesem porösen Fundament wird dann gegen Asylanten gehetzt, vom ‚Großen Austausch‘ gefaselt und die baldige Abschaffung des eigenen Volkes prognostiziert. Götz Kubitschek stößt in dasselbe Horn, wenn er von anhaltender Anarchie an den deutschen Landesgrenzen spricht – jüngst in einem Beitrag in der Sezession vor knapp einer Woche. Hiermit meint der Verleger nicht nur den Spätsommer 2015 (in dem es sicherlich eine Überforderung, jedoch bestimmt keine Anarchie gab), sondern auch das Frühjahr 2018: Der Staat habe keine Übersicht, die Gesinnung der ins Land gekommenen Flüchtlinge sei fragwürdig, das Gemeinwesen sei unverändert bedroht, so Kubitschek. Mit der Realität hat diese Panikmache nichts zu tun. Gemäß der Zahlen des BAMF lag die Anzahl der Erstanträge auf Asyl im Jahr 2017 bei knapp 200.000 im Vergleich zu ca. 700.000 im Jahr 2016. Diese Abnahme sollte selbst zur Eindämmung einer Anarchie, die es nie gegeben hat, genügen.

Wirmer-Flagge bei einer Pegida Demo
Enstellung und Instrumentalisierung zeigen sich auch bei Pegida: Beim schwarz-goldenen Kreuz auf rotem Grund handelt es sich um die Wirmer-Flagge, entworfen von Josef Wirmer, einem der Widerstandskämpfer vom 20. Juli ’44. Sie repräsentiert also eigentlich ein freiheitlich-offenes, kein abgeschottetes Deutschland. Lizenz: CC by-sa 2.0, Rechteinhaber: Metropolico, Original

Doch das Ausrufen des permanenten Ausnahmezustandes von rechts (auch dies erinnert im Übrigen an historisch finstere Zeiten) hat ohnehin nicht den Zweck, reale Probleme anzusprechen. Auch geht es hierbei längst nicht mehr um die Bewahrung des Eigenen, sondern vor allem um die Herabsetzung des Fremden; auch der Antikapitalismus kommt nur mehr als Fratze vor. Doch der kulturell bedrängte, in Ungleichzeitigkeit lebende Bürger ist ganz Ohr. Er meint nun zu wissen, was zu tun sei – Klassenwidersprüche aufzulösen, Vermögensverhältnisse zu hinterfragen, sich solidarisch mit den Armen der Zweiten und Dritten Welt zu zeigen, all das gehört nicht dazu. Stattdessen hat der Flüchtling zu verschwinden. Politische Heimat gibt die AfD, die sich vortrefflich auf Symptombekämpfung versteht (wie man weiß: zur Not mit der Waffe in der Hand an der Grenze), Widerspruch zu Wirtschaftsinteressen allerdings nicht erhebt. So macht die Partei Politik gegen die Menschen, die sie zu vertreten vorgibt. Hier bestätigen sich für die Gegenwart Blochs Worte von den braunen Lumpen, die nie die Sache meinen, von der sie sprechen, aber sie sprechen zu den Menschen – bei den Linken ist es umgekehrt (vgl. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 153).

Und noch eine Beobachtung Blochs wiederholt sich im Heute: Die Mittel, mit denen von rechts Beute gemacht wird an den unruhig gewordenen Menschen, sind einmal mehr die von links bekannten, insbesondere die der 68er (Thomas Wagner macht auf diesen Umstand zu Beginn seines Buches aufmerksam). Da werden Vorträge und Podiumsdiskussionen gestört, gezielt auf Provokationen und Tabubrüche gesetzt, popkulturelle Einflüsse genutzt – und, was soll man sagen? Es funktioniert! Die Linken scheinen ihre eigene Medizin nicht zu erkennen, während sie ihnen verabreicht wird; bisher sind sie noch über jedes Stöckchen gesprungen, das ihnen hingehalten wurde. Hier wäre mehr Langmut, fern jedes Alarmismus‘ gefragt. Denn nochmals: Es steht bestimmt kein neuer Hitler am Horizont, doch in nicht wenige Reihenhäuser hat es – auch dank Versäumnissen linker Politik – ein mindestens latenter Rassismus bereits geschafft. Dem sollte entgegengewirkt werden, zumal die Rechten manch programmatisches Potential noch gar nicht ausgeschöpft haben. Bereits in den 70ern gingen französische Nationalisten mit Parolen wie „Umweltschutz ist Heimatschutz“ hausieren. Es bleibt zu hoffen, dass Göring-Eckhardt und Özdemir, zur Not auch ein Horst Seehofer, diese Losung vor Weidel und Gauland entdecken. Auch dann wäre Schaden angerichtet, aber immerhin doch ein kleinerer.

Nebenschauplätze

Hemmnisse für die Berücksichtigung von Ungleichzeitigkeit sind in Bezug auf die Parteien bereits einige genannt worden. In der Hauptsache blendet man sich selber, macht Politik wider den eigenen Markenkern, wendet sich neuen Wählergruppen zu. Doch es wirkt noch Gewichtigeres blockierend, das in der einfachen Übung, die Rassisten unter den Rechten auszumachen (die dies vielfach wohl nur zwecks Provokation sind), bereits angedeutet wurde. Zu viele Parteigänger der Linken verstehen sich nur mehr auf weiche Themen. Häufig selber einem Milieu entstammend, das materielle Sorgen nicht kennt, sich in keinerlei Hinsicht einschränken muss, rücken existentielle Fragen des Einkommens und der Vermögensverteilung in den Hintergrund – mit ihnen sinken Marx, Engels und ihre Adepten in die Bedeutungslosigkeit (Thomas Wagner diskutiert dieses Problem am Ende seines Buches mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann). Anstatt die gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren, geht es gegenwärtig vor allem um Fragen der Identität: Wie fühle ich mich? Was möchte ich? Was tut mir gut, was schadet mir? Wer bin ich? Alles sinnvolle Fragen, solange sie nicht die politische Programmatik kapern.

Die persönliche Sinnsuche gibt sich zumeist maximal tolerant, nur um nicht selten in die größte Intoleranz einzumünden. Da wird etwa der Uni-Mensa verboten, fremdländische Gerichte zu kochen, mit der Begründung, es handele sich hierbei um eine unzulässige kulturelle Aneignung; da werden national Gesinnte aus Theatern verbannt, weil sie die Weltanschauung der Betreiber nicht teilen; da werden ‚safe spaces‘ eingerichtet, in denen sich die ewig Benachteiligten (oder die, die man dafür hält) sicher sein können, dass ihre Gedanken und Überzeugungen von niemandem infrage gestellt werden; da wird ein Buch aus einer Bestsellerliste entfernt, weil der Inhalt nicht genehm ist; da wird im Namen der Geschlechtergerechtigkeit darauf gedrängt, ein vollkommen harmloses Gedicht an einer Hauswand überzupinseln; da werden Kants Schriften, einer Zigarettenschachtel ähnlich, mit einem Warnhinweis versehen, weil irgendwo das Wort „Neger“ auftaucht; da werden schließlich jahrhundertealte Bilder aus Museen entfernt, weil sich Besucher am vermeintlichen Sexismus der Darstellung störten. Mag in einigen wenigen der genannten Beispiele Schlechtes berechtigterweise angeprangert werden, mag in allen Beispielen eine gute Absicht hinter dem falschen Aktionismus verborgen sein, insgesamt allerdings ist diese Art ‚linker‘ Programmatik absolut toxisch. Denn zum einen kapselt man sich ein in der eigenen Weltanschauung, macht sich so unnötig dümmer als man sein müsste, verweigert sich, Dinge aus ihrer Zeit zu verstehen. Zum anderen, wichtiger noch, stößt diese Art der Debatte in ihren gegenwärtigen Ausmaßen bei all denjenigen, die existentielle Sorgen haben, deren größtes Problem eben nicht ist, ob neben Mann und Frau auch Transgender-Menschen ihre eigene Toilette bekommen sollten, einzig auf Unverständnis. Drittens schließlich tut eine Linke, die vor allem als Sprach- und Gesinnungspolizei unterwegs ist, der Wirtschaft in keinerlei Weise weh. Im Gegenteil, sie kann hervorragend von dieser eingemeindet werden; etwas zugespitzt: Feminist wird man heute mit dem Erwerb von Kleidung, die einen als solchen ausweist, Antirassist mit einem Dislike für die Essener Tafel.

Nimmt man dieses letztgenannte Beispiel, so kann zugleich gezeigt werden, wie sich eine Wende herbeiführen ließe. Denn das Thema beim Ausschluss der Flüchtlinge von der Armenspeisung ist doch nicht, ob ein paar Ehrenämtler plötzlich ihren Rassismus entdeckt haben (haben sie wohl eher nicht). Das Thema ist doch vielmehr, dass in Deutschland, einem der wohlhabendsten Staaten auf diesem Planeten, wo die Wirtschaft brummt, ein Beschäftigungsrekord nach dem nächsten vermeldet wird, seit Jahren keine neuen Staatsschulden mehr gemacht werden – dass also in einem solchen Land Rentner und Asylanten um beinahe abgelaufene Lebensmittel konkurrieren müssen. Auf dieses schreiende Unrecht hätte eine politische Linke, die ihren Namen verdient, mit aller Vehemenz hinzuweisen. Tut sie dies nicht bald, sorgt sie zwar nicht für die Wiederholung von Geschichte, wohl aber doch dafür, dass die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts den ersten des 20. immer ähnlicher werden.


Korrektur: In einer älteren Version dieses Textes war – u.a. auch im Titel – unter Bezugnahme auf Bloch davon die Rede, die Nazis hätten Beute gemacht an „verloren gegangenen“ Menschen. Dies war unsauber aus dem Kopf zitiert. Tatsächlich spricht Bloch in Erbschaft dieser Zeit von einem Beutemachen an „unruhig gewordenen Menschen“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, GA Bd. 4, Frankfurt a. M. 1985, S. 19).

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