Aus Washington nichts Neues

Das politische Portrait steht und fällt mit der Person, der es sich zuwendet. Wo es Pläne und Inszenierungen zu enthüllen, Weltanschauungen zu entknoten gibt, lohnt der genaue Blick; der Text kann gelingen. So wie etwa bei George Packer, der vor einigen Jahren ein großartiges Stück über die Kanzlerin für den „New Yorker“ geschrieben hat. Über die Person Angela Merkels entdeckte Packer den politischen Tiefschlaf eines ganzen Landes. Oder Henning Sußebach, der für die ZEIT Markus Söder begleitete und einen geltungssüchtigen Überehrgeizling kennenlernte, dem für den Weg nach oben keine Inszenierung zu gewagt ist. Es ist wenig überraschend, dass solche Texte über den derzeitigen amerikanischen Präsidenten nicht existieren.

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Mit dem Skalpell an der Seele

Den einen, exakt bestimmbaren Ausgangspunkt gibt es wohl für keine Abwärtsspirale. Doch der Roman braucht einen Beginn, von dem aus der langsame Niedergang eines Menschen nachgezeichnet werden kann. Dieter Wellershoff findet ihn in Die Schönheit des Schimpansen an der Universität: Klaus Jung – Student, Hoffnungsträger seiner Mutter auf gesellschaftliches Fortkommen – kämpft mit seiner Examensarbeit. Weiterlesen

Verzwergung der Moral

Wer nicht arbeitet, obwohl er oder sie könnte, macht sich moralisch schuldig. Das ist gesellschaftlicher Konsens. Zum Selbsterhalt, auch zum Erhalt der Annehmlichkeiten, die einen umgeben, ist Arbeit notwendig. Gemeinschaftlich unternommen stiftet sie Gemeinsinn, der wiederum Quell des moralischen Imperativs ist: Jeder leistet seinen Teil an Arbeit, um im Gegenzug seinen Anteil am Erarbeiteten zu erhalten – so viel zum gerechten Idealzustand. Weiterlesen

Horsts Evergrey – eine Polemik

Was gerne immer wieder gehört wird, was dabei seine Frische nicht einbüßt, wird Evergreen genannt. Im Gegensatz zu immergrünem Liedgut, das durch die Jahrzehnte wandert, kommt die leidige Debatte um den Islam, Deutschland und die Leitkultur mindestens als Evergrey, vielleicht auch schon als Everblack daher. Weiterlesen

Übers Beutemachen an unruhig gewordenen Menschen

Geschichte wiederholt sich nicht, niemals. Doch strukturelle Ähnlichkeiten gibt es sehr wohl, sodass der Hegel’sche Satz, das Einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass noch nie etwas aus ihr gelernt wurde, nicht zwangsläufig wahr sein (oder: bleiben) muss. Ohne mit einem neuen konfrontiert zu sein, lassen sich etwa in Sachen diplomatischer Entspannung sicherlich Lehren aus dem (alten) Kalten Krieg ziehen; ohne aus einem Zuckerberg einen Rockefeller zu machen, lohnt in der Frage, wie mit allzu mächtigen Unternehmen umzugehen sei, bestimmt auch ein Blick auf die vorletzte Jahrhundertwende; ohne schließlich Nazi zu sagen und die AfD samt Anhänger zu meinen, kann auch der Rückblick auf die 20er und 30er Jahre, auf den Aufstieg der Rechten und die Schwäche der Linken, erhellend für die Gegenwart sein. Weiterlesen

Zweierlei Verdeckendes

Manche Dinge stehen am falschen Ort; Gewohnheit oder Täuschung können sie dort platzieren – das eine ist menschlicher Irrtum beruhend auf eingeschliffenen Wahrnehmungsschemata, das andere Herrschaftsinstrument. Diese Differenzierung lässt sich anhand Swetlana Alexijewitschs Tschernobyl-Buch verdeutlichen – was zuvorderst ein literarischer Text ist, steht im Buchgeschäft bei den Sachbüchern, was eine Reaktorkatastrophe ist, wird von vielen Betroffenen unter die Kriege sortiert. Weiterlesen

Kleine Welten

Gewöhnlich werden Menschen an der Realität nüchtern; manchmal allerdings auch an der Fiktion, sofern diese sich auf die Realität versteht. David Simons Serie „The Wire“ tut dies; naturalistisch im Anspruch zeigt sie eine Vielzahl ihrer Figuren – Polizisten, Drogendealer, Hafenarbeiter, Lehrer, Politiker und Journalisten aus Baltimore – eingeschlossen in kleinen Welten. Die Funktionsweise dieser Welten ähneln einander, was erst in der von der Serie geleisteten Gesamtschau erkennbar wird: Nicht weniger als die Misere des postindustriellen Kapitalismus wird hier in einiger Breite dargestellt. Dieser Überblick ist die große Stärke von „The Wire“; zugleich macht er deutlich, was der Serie fehlt: Die Momente, in denen ein Blick über das Diagnostische hinaus gewagt wird, sind äußerst spärlich. Was zu machen sei mit all dem Elend, wie es überwunden werden könnte, ohne vorläufiges Stückwerk hervorzubringen, wird nicht gezeigt. Die zu ziehenden Konsequenzen sind dem Zuschauer überlassen; sie können wohl nicht radikal genug sein. Weiterlesen

Wider blindes Expertentum

Wo es arbeitsteilig zugeht, ist der Experte nicht weit. Gegenwärtig krabbelt er aus allen Winkeln, die Universität spuckt ihn zu Zehntausenden aus (einer ihrer Tribute an die Wirtschaft), Zeitungen und Fernsehanstalten scheint er zum Fetisch geworden zu sein. Mit dem Expertentum drängen die Debatten vor allem auf Entscheidungen, nicht so sehr auf Erkenntnis. Nicht ein argumentativer Austausch, der auf ein Gegenüber im Gespräch angewiesen ist und sich auf größere Zusammenhänge einlässt, der aufs Zuhören setzt und auch mit einem offenen Ende leben kann, sondern das feste Resultat beherrscht den Zeitgeist – derweil der vermeintliche Gesprächspartner möglichst geschlagen im Staub der Debatte liegen soll. Weiterlesen

Ambivalenz im Fortschritt – Tykwers „Wolkenatlas“

Manch einem Kunstwerk wird Unrecht getan, nicht weil jemand in seinem Urteil irrt, sondern weil Entscheidendes unberücksichtigt bleibt. So ist es Tom Tykwers Film „Cloud Atlas“ ergangen: thematisch überfrachtet, größenwahnsinnig im Anspruch, zu lang, zu viel Pathos, gekrönt schließlich von einigen Albernheiten, so lauteten die Urteile. Nichts davon ist falsch, doch stehen eben diese Schwachpunkte neben einer wichtigen Leistung des Films, dem Erfassen der Ambivalenz im historischen Fortschreiten. Weiterlesen