Gewöhnlich werden Menschen an der Realität nüchtern; manchmal allerdings auch an der Fiktion, sofern diese sich auf die Realität versteht. David Simons Serie „The Wire“ tut dies; naturalistisch im Anspruch zeigt sie eine Vielzahl ihrer Figuren – Polizisten, Drogendealer, Hafenarbeiter, Lehrer, Politiker und Journalisten aus Baltimore – eingeschlossen in kleinen Welten. Die Funktionsweise dieser Welten ähneln einander, was erst in der von der Serie geleisteten Gesamtschau erkennbar wird: Nicht weniger als die Misere des postindustriellen Kapitalismus wird hier in einiger Breite dargestellt. Dieser Überblick ist die große Stärke von „The Wire“; zugleich macht er deutlich, was der Serie fehlt: Die Momente, in denen ein Blick über das Diagnostische hinaus gewagt wird, sind äußerst spärlich. Was zu machen sei mit all dem Elend, wie es überwunden werden könnte, ohne vorläufiges Stückwerk hervorzubringen, wird nicht gezeigt. Die zu ziehenden Konsequenzen sind dem Zuschauer überlassen; sie können wohl nicht radikal genug sein.

(Hinweis: Der folgende Text gibt zentrale Geschehnisse verschiedener Handlungsstränge von „The Wire“ preis. Da die Serie jedoch mehr von ihrer erzählerischen Breite als von Spannungsspitzen lebt, ist auch ein An- oder Wiedersehen im Wissen um den Inhalt lohnenswert.) „The Wire“ dekliniert die Schieflagen einer postindustriellen Großstadt am Beispiel Baltimores durch: den Niedergang des Arbeitermilieus, die Lähmung der Institutionen durch das Macht- und Profitstreben Einzelner sowie allzu starre Hierarchien, die Verwahrlosung ganzer Stadtteile, den alltäglichen Kampf in der Schule mit längst abgeschriebenen Kindern, die Verflachung des Journalismus im Angesicht ökonomischer Zwänge und immer wieder, gewissermaßen als Rahmung und Durchdringung des Elends, das Drogenproblem der Stadt – aus Dealer-, Konsumenten- und Polizistensicht. Nahezu alle Figuren sind in kleinen Kosmen unterwegs, nur wenigen gelingt der Übergang von einer Welt in die andere. Wer dies schafft, sieht sich sodann in seiner neuen Umgebung mit strukturell ähnlichen Problemen wie in der alten konfrontiert. Zumeist jedoch leben (und sterben!) die Figuren in ihren kleinen Welten, die vor allem eines im Überfluss bieten: Beengung.

In den Hinterzimmern

Am deutlichsten wird dies im Fall der Drogendealer: Manch ein populärkulturell überflutetes Hirn macht sich sicherlich allerlei blumige Vorstellungen, wie es wohl so zugeht im Drogenmilieu; und dann kommt es doch tatsächlich langweiliger daher als es jeder Achtstundentag im Büro je sein könnte. In dieser Hinsicht glänzt die Serie, indem sie ernüchtert: Vom Mythos große, aufregende Gangster-Welt, den andere Serien gezielt befeuern, lässt „The Wire“ nichts übrig. Das gilt für die Obermotzen an der Spitze ebenso wie für die Jungs an den Straßenecken. Erstere sind ständig von Geldzählern umgeben, sie selber drehen Däumchen, geben ab und an eine Anweisung; ihre ‚Meetings‘ darüber, wie man das eigene Produkt und die Konkurrenz am besten loswird, könnten auch in Konferenzsälen gewöhnlicher Unternehmen stattfinden (nur die Handlungsanweisungen und Methoden dürften andere sein). Da ist es nur konsequent, dass Simon einen der Strippenzieher der Baltimorer Unterwelt, (mit sprechendem Namen) Stringer Bell, tagsüber zum Community-College in den BWL-Kurs schickt. Da sitzt der Gangster dann, brav mit Stift und Brille, und lernt eifrig die Regeln von Angebot und Nachfrage. Der praktische Teil folgt dann abends; das ist, wenn man so möchte, duale Ausbildung auf Amerikanisch; zugleich wird hier ein Weg eingeschlagen, der in der dritten Staffel schließlich in einer Sackgasse endet: Bell ist Teil einer Zweierspitze, wobei sein Compagnon, Avon Barksdale, aufgrund eines Gefängnisaufenthalts für einige Jahre gezwungen ist, dem Tagesgeschäft fernzubleiben. In dieser Zeit drängt Bell auf die Überführung des im Drogenhandel erworbenen Geldes in legale Geschäfte. Das Vermögen soll sich selbst vermehren, nicht mehr so sehr im harten Kampf um jede Straßenecke vergrößert werden.

Doch aus der eigenen kleinen Welt gibt es nur schwer ein Entkommen: Bells Investitionen in Immobilien rentieren sich kurzfristig nicht, einige von ihnen versickern; Entscheidungsträger behalten Schmiergelder ein, ohne sich zu regen. Lange eingeübte Verhaltensmuster kann Bell hier nicht anwenden: Honoratioren der Baltimorer Geschäftswelt einfach erschießen zu lassen, würde ganz andere Wellen schlagen als das Aufräumen an einer Straßenecke irgendwo in der Westside. Währenddessen tritt im eigentlichen Kerngeschäft ein neuer Konkurrent, Marlo Stanfield, auf den Plan, der sich um die etablierten Regeln des Drogengeschäfts nicht schert. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus der Straße zieht an; „The Game“ – wie der Handel von den Involvierten immer wieder euphemistisch genannt wird – wird nun weitestgehend ohne Regeln gespielt; wobei Deregulierung in diesem Fall ‚mehr Leichen‘ bedeutet. In dieser Gemengelage nun wird Barksdale aus dem Gefängnis entlassen; er ist mit dem von Bell eingeschlagenem Kurs unzufrieden, zugleich wirkt sein eigenes Vorgehen reichlich aus der Zeit gefallen. Es wird schnell klar, dass er zu lange abseits des Geschäfts war. Ihm fehlt der Durchblick, auf das rabiate Vorgehen Stanfields hat er keine adäquate Antwort. Elisabeth K. Paefgen hat recht, wenn sie Barksdales unbeirrbares Beharren auf eine Rückeroberung der Straßenecken („I want my corners back“ – 3.06) mit dem Ruf nach Tante-Emma-Läden in einem freidrehenden Kapitalismus vergleicht (vgl. Paefgen, Elisabeth K., „There are no second acts in American lives“: The Wire, in: Lillge, Claudia (Hrsg. u.a.), Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men, Paderborn 2015, S. 159). Hier gibt es kein Vorwärts in die Vergangenheit; und wer auf die Starrheit des eigenen Mikrokosmos‘ besteht, der hat eben überhaupt keine Zukunft mehr. So ergeht es schließlich Bell und Barksdale.

Interessant ist, dass mit ihrem Drogenimperium auch reichlich ideologisches Beiwerk untergeht. So beendet Marlo Stanfield etwa das verlogene Gerede vom „Spiel“, das ja zu keinem Zeitpunkt konsequenzloses Probehandeln gewesen ist, geschweige denn sich durch verbindliche Regeln auszeichnete. Entsprechend ernüchtert zieht einer der ‚corner boys‘ (Bodie Broadus), der sowohl für Barksdale als auch für Stanfield gearbeitet hat, im Gespräch mit einem Polizisten (Jimmy McNulty) Bilanz: Könne man nicht ein wenig mehr Unterstützung von oben für jahrelange Loyalität erwarten; sei man denn mehr als eine Figur auf einem Schachbrett; würden die Bosse, käme es hart auf hart, einen unterstützen; als Fazit schließlich folgender Satz (mit dem McNulty wenige Folgen später über den Polizeiapparat richten wird): „The game ist rigged, man“ (4.13). Nicht nur, weil es unrettbar manipuliert ist, ist das Spiel nie eines gewesen. Broadus muss dies kurz darauf selber erleben: Sein Gespräch mit McNulty, bei dem er keinerlei Informationen durchgestochen hat, bleibt nicht unbemerkt. Er wird schließlich an ‚seiner‘ Straßenecke von Stanfields Leuten erschossen.

Neben dem verdrehten Bild vom Spiel, dessen Bedeutung ins Gegenteil verkehrt wurde, verschwindet zudem auch die Allegorie von der Familie, mit der Barksdale sein Drogenimperium dekorierte. Er gab vor, der engste Kreis stehe vor und über dem Geschäft (während er zugleich die Ermordung seines Neffen durch die eigenen Leute hinnimmt). So wird mit dem Einzug größerer Brutalität und Kompromisslosigkeit durch Stanfields Mordkommandos erstaunlicherweise Ehrlichkeit gewonnen. Die Karten liegen auf dem Tisch – und zeigen nun noch deutlicher die bereits skizzierten Parallelen zur restlichen Wirtschaft (Angebot und Nachfrage, rücksichtslose Eroberung von Märkten, Deregulierung bis zu einem ‚Alle gegen Alle und Jeder für sich‘, Ausschalten der Konkurrenz etc.). Es ist ersichtlich: Viele kleine Welten werden von identischen Gesetzen beherrscht, ähneln sich bis hinein in den ideologischen Überbau.

Hinter den Schreibtischen

Diese Analogien sind zugleich der wenig dezente Hinweis der Serienmacher, dass die Polizei im Kampf gegen die Drogen noch so viel durchgreifen, abhören, infiltrieren oder gut zureden kann; sie wird immer nur Scheinsiege davontragen, solange keine grundsätzliche Debatte über das herrschende Wirtschaftssystem, als einer wesentlichen Ursache sowohl für den Konsum als auch für den Vertrieb der Drogen, geführt wird. Die Serie geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie die Polizei selber als Gefangene dieser Wirtschaftslogik porträtiert. Die in Staffel 3 einsetzenden Präsentationen der Polizei-Bezirkschefs vor ihren Vorgesetzten dienen keinem anderen Zweck als dem Verkauf – und zwar dem einer möglichst guten Kriminalstatistik. Und exakt wie bei vielen gewöhnlichen Waren spielt nur mehr die Aufmachung, der Schein eine Rolle, nicht die Frage, wie die Zahlen zustande gekommen sind oder ob sie überhaupt die Realität abbilden. Die Statistik wird für den Verkauf geschaffen; sie wird als ideologisch aufbereitetes Tauschmittel benötigt, für das im Gegenzug eine Förderung der eigenen Karriere in Empfang genommen werden soll. Die kleine Welt der Polizisten, die dem Einzelnen ähnlich wenig Spielraum bietet wie jene der Drogendealer, wird derart mit einer ansprechenden Fassade versehen; wie es dahinter tatsächlich aussieht, ist nicht weiter von Belang. So wird Baltimore zum Potemkinschen Dorf, in dem alle Aufrichtigen sich in ihren Bemühungen immerzu den Kopf an den Kulissen stoßen. Wie sehr etwa die Ermittler Jimmy McNulty und Lester Freamon an der oft bemühten „chain of command“ auch zerren und rütteln, sie können sie nicht einholen; am Ende haben die immer wieder treffenderweise als „The Gods“ apostrophierten Vorgesetzten – und damit die herrschenden Verhältnisse – das letzte Wort.

Auf die Spitze getrieben wird das Spiel mit den Fassaden in Staffel 5. In ihrer Frustration über die Strukturen in der Polizeibehörde erfinden McNulty und Freamon einen Serienmörder, der es auf Obdachlose abgesehen hat. Sie wollen die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf die Polizei richten und hoffen, dass der entstehende Druck von außen mehr Gelder freimacht. Der Plan geht auf, die neuen Ressourcen leiten die beiden sodann auf ihren eigentlichen Fall um. Einen großen Durchbruch bringt der Schwindel allerdings nicht, letztlich führt er vor allem zu Rekursion – die Vorspiegelung ruft weitere Vorspiegelungen auf: Die Verantwortlichen bei der Polizei tun zunächst so, als würde mit viel Aufwand nach dem vermeintlichen Täter gesucht werden (was aus Kostengründen nicht geschieht) und ein ehrgeiziger Reporter der „Baltimore Sun“, der ein eher loses Verhältnis zur Wahrheit pflegt, setzt neben den fiktiven Serienmörder der beiden Polizisten seinen eigenen. Und als die Kulissen schließlich zusammenzufallen drohen, weil immer mehr Leute von der Lüge Wind bekommen, da ergeht von ganz oben, aus dem Büro des Bürgermeisters, die Direktive das Phantom vom Obdachlosen-Killer aufrecht zu erhalten. Schließlich ist gerade Wahlkampf, da käme eine solche Enthüllung äußerst ungelegen.

Nicht so sehr nüchtern machend, vielmehr ernüchternd wirken auf den Zuschauer diese Schachereien, die noch die Regelverstöße der Aufrichtigen zu inkorporieren wissen. Zugleich markieren sie den klaren Bruch mit einer Hollywood-Konvention: Das heroische Individuum, das – von Moral und Idealismus getrieben – mit wenigen Handstreichen für Gerechtigkeit sorgt, gibt es in „The Wire“ nicht. Die Institutionen befördern, bremsen oder zermalmen den Einzelnen, was eigentlich keine andere Konsequenz zulässt als diejenige, „die empirische Welt so einzurichten, daß er [der Mensch] das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohlverstandne Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt. (…) Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden“ (MEW, Bd. 2, S. 138). So steil, wie sie zunächst anmuten mag, ist diese These nicht: In ihrer Gesamtschau auf ein von monetären Interessen, Karriere- und Warendenken zersetztes Gemeinwesen legt die Serie marxistische Schlussfolgerungen nahe – eben vor allem jene, dass der Mensch von seinen Umständen geformt werde. Doch wie nun sollen diese Umstände menschlich gebildet werden, wo doch den meisten Figuren in ihren kleinen Welten gerade die Gesamtschau und damit auch obige Einsicht abgeht – und all jene, die ihrer gewahr werden könnten, vor den Zwängen der Verhältnisse einknicken?

Stellvertretend für letzteres Problem stehen die Journalisten aus Staffel 5. Mehrmals geht es in Redaktionskonferenzen um den zukünftigen Kurs der Zeitung: Wie viel tiefschürfende Analyse, lange und hartnäckige Recherchen kann und sollte man sich noch leisten? Im Angesicht sinkender Verkaufszahlen und Anzeigenerlöse sowie der neuen Konkurrenz aus dem Internet werden die Redakteure schließlich auf einen „Dickensian Aspect“ verpflichtet – heißt: Fortan steht nicht mehr der Blick auf den Boden der herrschenden Verhältnisse im Vordergrund, sondern das Einzelschicksal. Lieber also sollen gegenwärtige Oliver-Twist-Gestalten den Leser das Taschentuch zücken lassen anstatt ihn in die Lage zu versetzen, an den Grundfesten seiner Welt rütteln zu können. Auch in diesem Zusammenhang gibt es Figuren, die eigenmächtig den entgegengesetzten Weg einschlagen – wie schon im Fall des Polizeiapparates scheitern auch sie an den Verhältnissen. Kurzum, auch wenn sie auf die entscheidende Frage nach den menschlich zu bildenden Umständen keine Antwort liefert, leistet die Serie selber das, wozu die Mehrzahl ihrer Figuren nicht willens oder in der Lage ist: Sie versteht sich auf die Diagnose, nicht jedoch auf die Therapie.

An den Straßenecken

Um dies weiter zu untermauern, noch einmal zurück zum Drögen am Geschäft mit den Drogen – diesmal allerdings nicht aus der Perspektive der oberen, sondern der unteren Chargen. Die Kinder und Jugendlichen an den Straßenecken stehen den lieben langen Tag in der Gegend herum und nehmen Bestellungen auf; arbeitsteilig wird dann das Geld entgegengenommen und der Stoff an den Kunden gebracht; von Zeit zu Zeit kommt der ‚Vorgesetzte‘ vorbei und erkundigt sich nach der Lage; die Mittagspause wird im Fast-Food-Laden verbracht. Von großer Welt ist hier überhaupt gar nichts mehr zu spüren, nur mehr entsetzliche Enge, derer sich nur wenige der Jugendlichen bewusst sind – sie kennen schließlich nichts anderes. Ihre Welt sind die paar Straßenzüge ihres Geschäftsgebietes. Wie sehr hier noch nicht einmal der Tellerrand erkannt wird, den es doch eigentlich zu überblicken gilt, wird deutlich, als zwei der Jungs aus dem Vertrieb sich auf den Weg von Baltimore nach Philadelphia machen, um dort ein Auto abzuholen. Während der Fahrt fängt das Radio an zu rauschen, sie befinden sich bereits außerhalb Baltimores. Es entwickelt sich folgender, denkwürdiger Dialog (im Straßenslang der Schwarzen): „[A:] ‚Ai jo, this radio ain’t workin‘ that well‘ [B:] ‚You’re losing it‘ [A:] ‚Hu?‘ [B:] ‚You’re losing the station, man‘ [A:] ‚What‘ you mean?‘ [B:] ‚We’ve got so far from Baltimore, man, we’re losing the station. Go try Philly Station or some shit like that, yo!‘ [A:] ‚The radio in Philly is different?‘ [B:] ‚Nigger please, you gotta be fuckin‘ with me, right? You ain’t never heard a radio station outside of Baltimore?‘ [A:] ‚Look man, I ain’t never left Baltimore, except that Boys-Village-Shit, one day, and I wasn’t tryin‘ ain’t no radio up in that bitch.‘“ (2.01)

Unzweifelhaft hat die Szene ihre eigene Komik, die sich aus der Unwissenheit einer der Figuren speist. Doch in der Reflektion bleibt einem bereits das Lachen im Halse stecken. Im eigentlich flüchtigen Nebenbei, einer Autofahrt von Baltimore nach Philadelphia, fängt David Simon das gesamte Elend der ‚corner boys‘ ein. Eingemauert in ihren Stadtbezirk, für alle Zeiten, wird ihnen jede Bildung vorenthalten – mit etwas Pathos ließe sich sagen: nicht nur die des Verstandes, sondern auch die des Herzens; Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit sind für sie näherungsweise eins, es sei denn man wird erschossen oder wandert für ein paar Jahre ein. Erstere Art von ‚Abwechslung‘ ereilt im Übrigen all jene Figuren, die aus dieser kleinen Welt zu entkommen versuchen. Wallace etwa, ein Jugendlicher, der in Staffel 1 für Barksdale Drogen verkauft, sich jedoch als reichlich ungeeignet für das Geschäft erweist (er bekommt das mit dem Geldzählen nicht so richtig auf die Kette), zudem Skrupel zeigt, als von ihm gelieferte Informationen zu einem brutalen Mord führen. Wallace zieht sich in der Folge zurück, was ihn – gewissermaßen als weich gewordenes Ziel – für die Polizei interessant macht. Diese kommt auf ihn zu, womit Wallaces Ende besiegelt ist. An dieser Figur wird die unglaubliche Verschwendung von Potential am deutlichsten, die in den aufgegebenen Stadtvierteln mit der eigenen Jugend betrieben wird: Wallace wollte zurück in die Schule gehen, er übernahm Verantwortung für kleinere Kinder im Viertel, um die sich niemand mehr kümmerte und er war in Sachen moralischer Verwahrlosung noch längst nicht auf einem Level mit seiner Umgebung. All das jedoch genügte nicht für eine Umkehr – auch in diesem Fall regieren die Verhältnisse über das Individuum.

Im Klassenzimmer

Den Blick zu weiten, die Welt größer zu machen, sollte eine Aufgabe der Schule sein. Was sie in „The Wire“ zuvorderst ist, erinnert an eine Verwahranstalt für Verlorene, an die Fortsetzung der Misere von der Straße im Klassenzimmer. Als personifizierte, leibliche Gestalt gewordene Resignation schlurft die Schuldirektorin in Staffel 4 durch die Gänge ihres Reiches. Im Unterricht ist es selten ruhig; kaum eine Klasse ist vollständig anwesend; keine Stunde geht ohne wüste Beschimpfungen der Lehrer zu Ende; manch ein Pädagoge behilft sich mit einem Aufdrehen der Heizkörper, um den ‚Feind‘ schläfrig zu machen; und auch in der Institution Schule tauchen altbekannte Zwänge wieder auf: Um keine Fördergelder zu verlieren, müssen die Schüler in Tests ein bestimmtes Level erreichen – es muss einmal mehr die Statistik stimmen. Also werden die Fragen samt Antworten bereits im Voraus präsentiert, in der Hoffnung, irgendetwas werde schon hängenbleiben. So ist auch hier eine annehmbare Fassade errichtet, die von der Politik präsentiert werden kann und hinter der die Lehrer mit dem Chaos allein gelassen werden.

Doch wie in der Polizeibehörde, in der Zeitungsredaktion und im Drogengeschäft gibt es auch in der Schule Figuren, die sich in einer solchen Scheinwelt nicht recht wohl fühlen, die die Dinge deshalb in die eigenen Hände nehmen (wobei man sich das Resultat dieser Mühen mittlerweile sicherlich denken kann): Die Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen erreicht, wer sich auf ihre Welt einlässt. Grundlegend hierfür ist die Einsicht eines zum Sozialarbeiter umgeschulten ehemaligen Polizisten im Gespräch mit einer Dame von der Schulbehörde: „You put a textbook in front of these kids, put a problem on a blackboard (…) – it won’t matter, none of it ‘cause they’re not learning for our world, they’re learning for theirs. And they know exactly what it is they’re training for and what it is everyone expects them to be. (…) It’s not about (…) the test or the system, it’s what they expected themselves. I mean every single one of them know they’re headed back to the corners. Their brothers and sisters – shit, their parents – came through these same classrooms, didn’t they? We pretend to teach them, they pretend to learn. What‘ they end up? Same damn corners! They’re not fools, these kids. They don’t know our world but they know their own“ (4.10).

Mit der Diagnose einer gewissen Unvereinbarkeit von Lernstoff und Schulalltag auf der einen und dem Leben der Jugendlichen an den Straßenecken auf der anderen Seite werden neue Wege bestritten: In einer Klasse werden nur ‚corner kids‘, die für einen Großteil der Unruhe in den Klassenzimmern verantwortlich sind, zusammengefasst. Dort erhalten sie keinen Unterricht, sondern reden über ihre Erfahrungen auf der Straße. Derweil holt ein Lehrer, Roland Pryzbylewski, bezeichnenderweise ebenfalls ein ehemaliger Polizist, die Schüler im regulären Unterricht mit Würfelspielen ab – einem beliebten Zeitvertreib im drögen Alltag an den Straßenecken. Auf diese Weise wird Glücksspiel mit Wahrscheinlichkeitsrechnung verknüpft. Beide Experimente haben ihre Rückschläge, insgesamt allerdings überwiegen die Erfolge. Es sind dies einige der wenigen Momente, in denen „The Wire“ so etwas wie Hoffnung auf Besserung macht, in denen nicht im umfänglichen Protokoll des Status Quo verblieben wird. Doch charakteristisch für die Serie ist eben, dass diese Reformen im Kleinen nur Momentaufnahmen sind, die schließlich von der Gewalt der Apparate hinweggefegt werden: Den Versuch mit der Extra-Klasse beendet die Politik, den speziellen Stochastik-Unterricht das Diktat der Statistik – wie beschrieben zählen fortan die Testresultate, nicht die Frage, ob etwas gelernt wurde. Auch hier also liegt der Blick aufs Ganze wiederum ein Scheitern frei, legt eher tiefgreifende Umwälzung als kleinteilige Reform nahe.

Was, wenn nicht diese Schlussfolgerung, kann ansonsten aus der Serie gezogen werden? Was wäre stattdessen zu tun, um die kleinen Welten zum Bersten zu bringen? Was könnte helfen, außer ein Nachdenken über Grundsätzliches, über all jene Gesetze, die viele dieser Mikrokosmen durchwirken? Der Universalität dieser Gesetze gewahr zu werden, kann zu Solidarität über die Grenzen der eigenen Welt hinweg führen; sie nicht als unumstößlich, sondern als menschengemacht zu erkennen, kann zur Einsicht von Veränderbarkeit führen. So blieben dann die Aufrichtigen nicht mehr alleine, wären in ihren Bemühungen nicht mehr zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, müssten sich auch nicht mehr mühsam kleine Nischen erkämpfen, sondern könnten die Probleme frontal angehen. Diese Konsequenzen zu ziehen, ist Aufgabe des Zuschauers. Dass die Serie diesen Schritt nicht macht, kann ihr nicht vorgeworfen werden. „The Wire“ hätte damit weit mehr verloren als gewonnen, geht es den Serienmachern doch vor allem um eine Bestandsaufnahme – darum, zu zeigen, dass kein Drogendealer oder -abhängiger, kein korrupter Polizist oder Politiker, auch kein lügender Journalist je vom Himmel gefallen ist. Sie sind alle Produkte ihrer Umwelt, was ihr Handeln verständlich (nicht akzeptabel) macht. Gegen die Verhältnisse anzutreten, darf nicht Aufgabe einzelner Individuen bleiben; an diesen Einzelkämpfern ist „The Wire“ wahrlich reich; nur wenige von ihnen sind in diesem Text vorgekommen, über so viel mehr ließe sich schreiben – etwa über Duquan Weems, einen wissbegierigen Schüler, der mit einer Heroinnadel im Arm endet, über Bürgermeister Tommy Carcetti, der versprach alles anders zu machen, nur um am Ende doch von der Realität eingeholt zu werden, über Omar Little, der als einzelner Streiter Baltimores Drogenbosse ausraubt, derart Feuer mit Feuer bekämpft und so vor allem mithilft, die Hölle noch weiter anzuheizen, viel mehr auch noch über Jimmy McNulty und dessen Kampf gegen die Scheinwelten, der ihn schließlich selber eine errichten lässt. Das Handeln all dieser Figuren ist nur aus ihren jeweiligen kleinen Welten zu verstehen – und diese wiederum nur über den Blick aufs große Ganze. Der Zuschauer soll und darf an diesem Blick nüchtern, nicht jedoch ernüchtert und resigniert werden.

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