Es scheint eine Metonymie die Personalabteilungen vieler Unternehmen zu regieren: „Wir brauchen neue Köpfe!“ Während der Ruf noch durch die sterilen, vollverglasten Konferenzräume hallt, ist der Headhunter bereits aktiv geworden; eine Berufsbezeichnung scheint den Kotau vor einer rhetorischen Figur zu machen. Tatsächlich jedoch steht zu befürchten, dass der gegenwärtige Kapitalismus für deratige sprachliche Feinheiten nichts übrig hat, stattdessen die Forderung nach den „neuen Köpfen“ wörtlich meint. Weiterlesen
„Willkommen in der Hölle“
Am 21. Oktober 1999 geht ein halbes Dutzend russischer Boden-Boden-Raketen auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny nieder. Die Sprengköpfe treffen zivile Einrichtungen – unter anderem eine Moschee, ein Krankenhaus sowie den Zentralmarkt der Stadt. Mehr als einhundert Zivilisten werden getötet. Rückblickend erscheinen die Ereignisse rund um diesen 21. Oktober wie eine Blaupause für das Weltgeschehen der folgenden sechzehn Jahre: Sie deuten das Erstarken des internationalen, islamistischen Terrorismus an, zeigen die Hilflosigkeit der Staaten, dieser neuen Bedrohung zu begegnen, sowie das Verlassen rechtsstaatlicher Grundsätze als Reaktion auf diese Hilflosigkeit. Weiterlesen
Alle Macht geht dem Volke aus – zur Krise der EU
Der kindliche, naive Blick auf die Welt übersieht Wesentliches. Er interessiert sich nicht für komplexe Details, möchte stattdessen Grundlegendes erkennen. So ist er vom Expertentum leicht angreifbar, von all den alten Herrschaften, denen es seit jeher die größte Freude bereitet, der Jugend ihre Unwissenheit vorzuhalten. Zugleich allerdings ist der naive Blick selber ungemein angriffslustig, weil er trotz – oder gerade wegen – seiner Abstraktionen mitunter klarer sieht als der streng analysierende Blick. Er kann entlarvend sein, der Finger kann in der aufgedeckten Wunde kindlich-fröhlich herumstochern. Im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise zeigt sich eine klaffende Wunde in Gestalt eines Demokratie-Defizits und zwar sowohl auf Seiten des griechischen Staates als auch im Hinblick auf die EU als Ganzes. Weiterlesen
Fleischbeschau in der Taiga
Es ist das immergleiche Schauspiel im Aufeinandertreffen von Arm und Reich, über Jahrhunderte hat es sich eingeschliffen: Der Unterdrücker, der einem Ketten anlegen wird, kommt im Gewand des Wohltäters. In der Maskerade des Menschenretters sprudeln nichts als große Worte und Versprechungen aus seinem Mund. Wo die Menschen Not und Elend kennen, trifft das Geschwätz auf einen besonders fruchtbaren Boden. Ein solcher Untergrund ist auch in der sibirischen Taiga bereitet, die großen Worte sind an junge Mädchen und ihre Familien gerichtet, ihr Inhalt handelt von einer glanzvollen Karriere als Model, von der weiten Welt und von finanzieller Absicherung für die gesamte Familie. Weiterlesen
Der dressierte Angestellte
Es regiert die Dressur, nicht nur im Zirkus, sondern mehr denn je auch in der Arbeitswelt. Bunt geht es zu, hier wie dort. Doch im Unternehmen existiert die Bonbonwelt nicht, um der Phantasie Höhenflüge zu verschaffen. Sie soll die Arbeitnehmer einlullen, sie von ihrer Persönlichkeit, letztlich von ihrem gesamten Leben außerhalb der Arbeit entwöhnen, um die Dressur zu erleichtern. Weiterlesen
Der Mangel und das Zuviel am Krankenbett
Die Frage geht an den Kranken: „Fehlt Ihnen etwas?“, „Was fehlt Ihnen denn?“ Millionenfach vernommen, in Arztpraxen, in Kinderzimmern, in Büros und Schulen. Die Krankheit erscheint als ein Mangel, ein Mangel an Gesundheit, die dem Kranken abhanden gekommen ist. Tatsächlich sind viele Krankheiten jedoch durch ein Zuviel, nicht durch einen Mangel gekennzeichnet: ein Zuviel an Viren und Bakterien, ein Zuviel in Gestalt von Geschwüren und Tumoren, ein Zuviel auch in der Gedankenwelt, in der plötzlich ein zweites Ich auftaucht, jemand einen zwingt die eigenen Atemzüge zu zählen oder längst verstorbene Verwandte wieder auferstehen. „Was fehlt Ihnen denn?“ – die korrekte Antwort müsste folglich lauten: „Nichts!“ Weiterlesen
Kreuzberg in der Karibik
„Zurück in Bismuna“, Dokumentarfilm von Uli Kick: Christian geht in Berlin auf den Strich, nächstes Geld nächster Schuss, fünf-, sechsmal am Tag – der Rhythmus eines Heroinabhängigen. Ende der 90er Jahre: Christian ist in Bismuna, im Dschungel Nicaraguas, ein deutsches Sozialprojekt für in der Heimat aufgegebene Jugendliche. Nichts als Arbeit, Holz hacken, Wasser schleppen, alles auf Ursprung, alles in Ordnung so weit – der Rhythmus eines Indios, zumindest näherungsweise. Zurück in Deutschland: aus dem Flieger in den Zug, so war der Plan; der Zug ist weg, Zeit ist da, Geld auch: nächstes Geld nächster Schuss, so schnell geht das. Freunde hast du nicht, in dieser Szene denkt jeder nur an sich, sagt Christian. Weiterlesen
Der Werktag als ewiger Sonntag
Flüchtig besehen passen sie nicht zusammen: das große Haus steht der kleinen Wohnung gegenüber, der Überfluss dem Begnügen mit dem Notwendigsten, ein von raschem Wandel geprägtes Leben einem weitestgehend statischen. Nein, der Reiche, der von fremder Hände Arbeit oder gleich von seinem Vermögen lebt, hat mit dem Arbeitslosen, der sich freiwillig mit seiner Sozialhilfe begnügt, noch jedes Jobangebot ausgeschlagen hat, auf den ersten Blick nichts gemein. Und doch gleichen sie einander in ihren Wunschlandschaften: beide träumen – der eine im Himmelbett, der andere auf der Pritsche – vom süßen Leben ohne Mühsal. Weiterlesen
Der Tod des Gewöhnlichen, das Gewöhnliche des Todes
Da hält sich der Pfarrer auf, mit all den Stationen und Eckpunkten eines Lebens, während der Trauerfeier – und trifft doch fast gar nichts. Es gilt wohl das Besondere eines Lebens herauszuschälen. Die Informationen, die ohnehin fast alle Anwesenden kennen, werden zuvor bei der Familie erfragt und schließlich mit der gebotenen Schwere in der Stimme abgespult. Trost gibt es in diesem Fall wohl nur durch die Erwartbarkeit: es wird das geliefert, was seit jeher an dieser Stelle geliefert wurde, was dereinst auch über einen selber ‚abgeliefert‘ werden wird. Vielleicht ist diese Oberflächlichkeit beabsichtigt, hören doch ohnehin viele nicht recht zu, vielleicht aber ist sie auch ein großer Irrtum. Weiterlesen
Die Rückkehr des Helden (zum Zweck seiner Demontage?)
Der Held war in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitestgehend ausgestorben. Nicht nur hatten die Nationalsozialisten ihn mit einer Vielzahl unmenschlicher Eigenschaften besudelt, sie hängten ihm auch unablösbar den Tod als sichersten Weg an, um zu (Helden)Ruhm zu gelangen. Nun kehrt der Held gegenwärtig in den Diskussionen um couragierte Bürger zurück. Weiterlesen