Der Held war in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitestgehend ausgestorben. Nicht nur hatten die Nationalsozialisten ihn mit einer Vielzahl unmenschlicher Eigenschaften besudelt, sie hängten ihm auch unablösbar den Tod als sichersten Weg an, um zu (Helden)Ruhm zu gelangen. Nun kehrt der Held gegenwärtig in den Diskussionen um couragierte Bürger zurück. Es handelt sich hierbei um eine spezielle Art des Helden: seine außergewöhnlichen Taten stehen mitunter auf einem wackeligen Fundament. Ihm droht die Zukunft mit dem Entzug seines Status. Er ist ein Held unter Vorbehalt, der aus dem Moment entstanden ist und in diesem seine Funktionen erfüllt. Manch einer benötigt ihn als Trost, andere zur moralischen Entlastung, wieder andere, um ihn in der Zukunft demontieren zu können. Mit den Helden der Vergangenheit verbindet ihn das Grab auf dem Friedhof – auch der Held des 21. Jahrhunderts ist tot.

All diese Eigenschaften zeigt insbesondere der Fall von Tuğçe A. Die Studentin prallte im November des vergangenen Jahres vor einem Offenbacher Fast-Food-Restaurant nach einem Schlag des 18-jährigen Sanel M. mit dem Kopf auf den Asphalt und verstarb. Mit diesem Satz hörten seinerzeit (und letztlich auch noch heute) bereits die Gewissheiten auf. Abseits des auf Video gebannten Schlages lag das Dickicht sich widersprechender Zeugenaussagen.

Dennoch etablierte sich in den Wochen nach der Tat der öffentliche Konsens Tuğçe A. als eine Heldin, ihr Verhalten als ein heldenmütiges zu bezeichnen. Die Preisung, von Politik und Medien gleichermaßen befeuert, wurzelte in den Aussagen einer Begleiterin von Tuğçe A.: Vor dem tödlichen Schlag hätten Tuğçe und ihre Freundinnen, aus einem Club kommend, in dem Fast-Food-Restaurant gesessen. Als Sanel M. mit seinen Freunden eintrat, hätten diese sofort begonnen Gäste anzupöbeln. Irgendwann habe Tuğçe Hilferufe aus der Toilette gehört. Dort angekommen, habe sie zwei jungen Mädchen geholfen, die von der Gruppe um Sanel M. belästigt worden seien. Mit diesen Angaben stand das Bild, das fortan in der Öffentlichkeit gepflegt wurde. Die Rollen waren klar verteilt: Der abgehängte Kleinstadt-Ganove schlägt die engagierte Studentin tot, weil er in seiner Macho-Ehre gekränkt wurde. Die gescheiterte Integration vergreift sich an der gelungenen.

Wenn für den Moment einmal angenommen wird, diese Version entspräche tatsächlich uneingeschränkt der Wahrheit, so bliebe die anschließende Erhebung zur Heldin dennoch ein gefährlicher Fehler, denn für die Zuschreibung wird der höchste Preis fällig, den ein Mensch für seine Aufrichtigkeit zahlen kann. Hätte Tuğçe A. dem Schlag ausweichen können oder wäre sie nicht derart unglücklich getroffen worden und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen, hätte sie sich danach aufgerappelt, einmal geschüttelt und die Situation hätte sich aufgelöst, ihren Mut und ihren Sinn für Gerechtigkeit hätte ein solch glimpflicher Ausgang nicht geschmälert. Im öffentlichen Urteil jedoch wäre sie lebend nie zu einer Heldin geworden. Keinen Fünfzeiler in der Sonntagszeitung wäre der nächtliche Vorfall Wert gewesen. Wenn wir folglich die lebenden Helden nicht als solche benennen wollen, so sollten wir den Toten, die mit diesem Prädikat nichts mehr anfangen können, dieses nicht als billige Grabbeigabe hinterherschmeißen.

Das posthume Bohei um den Helden wird weniger zu Ehren des Toten veranstaltet, es dient vielmehr den Lebenden. Im Fall von Tuğçe A. überboten die Politiker einander in Solidaritätsbekundungen, der Ausspruch von Anerkennung war noch das Geringste. Straßen und Brücken sollten nach ihr benannt werden, schließlich wurde über eine Petition das Bundesverdienstkreuz ins Gespräch gebracht. So würde also die moralische Entlastung einer Gesellschaft im Überreichen eines Stücks Metall an die Hinterbliebenen (als Stellvertreter) gipfeln, die auch noch den pastoralen Vortrag des Bundespräsidenten über sich ergehen lassen müssten.

Bis es dereinst vielleicht so weit sein möge, pilgerten tausende Menschen zu Mahnwachen und Trauerfeiern. Tränen flossen, die zeigten, dass nicht allein Solidarität bekundet wurde. Die Gesellschaft trauert als Kollektiv und zwar nicht zuerst über das Opfer, sondern über sich selbst. Mit der Verehrung des leuchtenden Beispiels soll der eigene Makel kompensiert werden. Die Trauernden beweinen ihre eigene Unzulänglichkeit, die ihnen niemand zum Vorwurf machen sollte. Wer kann denn für sich beanspruchen in Zukunft so zu handeln, wie es Tuğçe A. (laut den Aussagen ihrer Begleiterin) tat, wenn hierbei letztlich das eigene Leben auf dem Spiel steht? Diese Frage macht die moralische Entlastung durch Kompensationen wie Straßenbenennungen, Verdienstkreuze aller Art und kollektiv zur Schau gestellter Anteilnahme erst notwendig: Wer möchte schon gerne sterben?

Die Heldenverehrung setzt einen gesellschaftlichen Rahmen, in dem sich die Mehrheit der Menschen (verständlicherweise) nicht mehr einmischt und sich nur mehr die Hasardeure offen solidarisch mit den Schwachen und Bedrohten zeigen. Die überwältigende Anteilnahme der Massen an ihrem Grab wird ihnen als Kompensation für ihre Courage umso sicherer sein. Die Rede vom Helden leistet einer Entwicklung Vorschub, die es irgendwann normal erscheinen lassen wird, nachts um halb vier sein Leben auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants einsetzen zu müssen, um einen Streit unter Jugendlichen schlichten zu können.

Um dem vorzubeugen, sollte verbal abgerüstet werden. Der Held sollte besser ad acta gelegt werden, da er untrennbar mit Gewalt und Lebensgefahr verbunden ist: Helden waren (und sind) die Soldaten, die verstümmelt oder in der Horizontalen aus dem Krieg heimkehren; Helden sind die Idealisten, die für ihre Vorstellungen den Tod finden; Helden sind couragierte Bürger, die von Jugendlichen zu Tode geprügelt werden. Ihre Ausrufung glorifiziert das Sterben und richtet hierdurch weit mehr Schaden an als sie Nutzen einbringt.

Zudem birgt sie eine weitere Gefahr: die mit dem Tod gewonnene Zuschreibung ‚Held‘ glasiert ein ganzes Leben. Jede Geste, jede kleine Liebenswürdigkeit wie auch jede verschrobene Eigenart wird überhöht und fügt sich in das Bild vom Absolut-Guten. Alles Negative hingegen wird beiseite geschoben. Diese einseitige Betrachtung wird zum einen keinem Leben gerecht, zum anderen bereitet sie einem schwer aufzulösenden Dualismus den Boden, denn dem hellen Licht muss die tiefschwarze Dunkelheit in Gestalt des kaum-fassbaren Bösen gegenüberstehen. Auch diese Zuschreibung passt auf kein Leben, spart sie doch alles Positive aus. Jede Jugendsünde, jedes kleine Scheitern wird überhöht und als eine Etappe auf dem Weg zum ‚Killer‘ in den vorgefertigten Rahmen der Erzählung integriert. Wer diesen strikten Dualismus mit der Wirklichkeit verwechselt, der gibt der Verführungskraft eines schlichten Verständnisses der Welt nach, einer Welt im Sinne der Bild-Zeitung, die allein von Emotionen gelenkt wird, zugleich mit ihnen spielt.

So steht schließlich die entmenschlichte Heldin dem entmenschlichten Täter gegenüber. Erstere einer Apotheose unterzogen, letzterer einer Transformation zum Monster. Diese einfache Sichtweise ist verführerisch, weil sie keiner weiteren Frage mehr bedarf. Sie ankert leicht in den Gedanken bestimmter Menschen und wirkt sich auf deren Handeln aus: Rasch entsteht die Forderung das Monster als solches zu behandeln. Im Internet schäumt die Volksseele, die Menschen übertreffen einander mit Beschreibungen, wie der Täter Sanel M. – möglichst grausam – an sein eigenes Ende gebracht werden könnte. All dies unter dem Banner jener Art von Gerechtigkeit, mit der gefallene Helden seit Jahrhunderten gesühnt werden – dem Banner der Rache. Mit derartigen Forderungen wird man allerdings weder einer jungen Frau gerecht, die mutmaßlich bereit war schon bei geringen Ungerechtigkeiten einzuschreiten, noch einer Gesellschaft, deren Gesetze auch demjenigen, der große Schuld auf sich geladen hat, einen Weg zur Wiedereingliederung anbieten.

Nachdem im Fall von Tuğçe A. die Heldin dennoch wie oben beschrieben in die Welt gesetzt worden war, vielmehr als Engel direkt in das Himmelreich einzog, ging es nach einigen Monaten an ihre Demontage. Nüchtern ausgedrückt mag man es als „Ergänzungen den Tathergang betreffend“ bezeichnen, doch nach dem maximalen Lobpreis wirkte jeder Zusatz wie ein großer Kratzer im Andenken Tuğçe A.s und zugleich wie eine Entschuldigung des Täters. Die Politik weiß darum und schweigt, die Medien wissen darum und flechten seither in nahezu jeden ihrer Kommentare den Nebensatz ein, dass all diese neuen Erkenntnisse natürlich keine körperliche Gewalt rechtfertigen würden. Die Rückkehr in die Realität aus der selbst geschaffenen Scheinwelt zwingt zum Verkünden des Selbstverständlichen.

Nach und nach ergänzten (bzw. verwirrten) unter anderem folgende Aussagen das Bild vom Geschehen in jener Novembernacht: Mehrere Zeugen berichteten von heftigen gegenseitigen Pöbeleien; nach der Vernehmung der beiden vermeintlich belästigten Mädchen ist unklar, ob diese sich tatsächlich von Sanel M. und seinen Freunden bedrängt fühlten; nicht nur zwischen den Erzählungen der beiden Gruppen gibt es Widersprüchlichkeiten, auch die Versionen von Tuğçe A.s Begleiterinnen unterscheiden sich teilweise erheblich.

So pegelt sich im Prozess ein, was zuvor gewaltig aus dem Lot geraten war. Es braucht keine letzte Wahrheit oder einen Richterspruch, um konstatieren zu können, dass sowohl der Täter als auch das Opfer unter die Menschen zurückgekehrt sind. Die Heldin, wie sie in den Wochen nach der Tat konstruiert wurde, hat wohl nie existiert. Und dies klingt nur für diejenigen, die die Nichtexistenz des Absolut-Guten leugnen, wie eine Entschuldigung des Täters. Für alle anderen ist es die Rückkehr zur Normalität.

In dieser ist kein Platz für das Bild vom Helden, das derzeit gehandelt wird. Der Held ist zumeist nur einer auf Zeit. Er kann vielleicht den Hinterbliebenen kurzfristig Trost spenden oder die Gesellschaft als Kompensationsleistung moralisch entlasten, häufig wird er auch von Teilen der Öffentlichkeit instrumentalisiert, der Realität jedoch wird er zumeist nicht gerecht. Zudem ist es die Regel, dass derjenige, dem Heldenruhm zuteilwird, dies nicht mehr erlebt. Die Rückkehr des Helden wird auf Trauerfeiern begangen. Gesellschaften, die ihn hochhalten, zeichnen sich selten durch Friedfertigkeit aus. Vielmehr tummeln sich in ihnen scheinbar unüberwindbare Gegensätze. Es gibt bereits zu viele Orte auf der Welt, die derart geprägt sind. Deutschland  sollte sich nicht (wieder) in diese Phalanx einreihen. Keine Idee, sei sie noch so vortrefflich, lohnt den Tod. Solange der Held das Sterben einfordert, sollte er nicht zurückkehren.

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