Eine konturlose Welt – Über den sowjetischen Totalitarismus

Die Revolution, ja jeder kleine Aufruhr ruft zunächst „Freiheit“, womit zuvorderst die „Befreiung“ von bestimmten Zuständen oder Personen gemeint ist (Isaiah Berlin). Stellen sich Erfolge ein, so ist die Freiheit vollkommen exponiert und ungeschützt – sie kann einem leicht wieder genommen werden. Uneingeschränkte Freiheit kann auch eine Bürde sein; sie zu delegieren, es sich bequem zu machen, erscheint manch einem dann verführerisch; vielleicht wächst vereinzelt gar die Sehnsucht nach einer starken Hand. In Russland bedienten 1917 die Bolschewisten diese Sehnsucht und sie packten derart fest und geschickt zu, dass es quasi über Nacht zu einem ‚Einfrieren‘ der Zustände kam: Aus einer Möglichkeit unter vielen wurde ihr Weg zum einzig gangbaren. Weiterlesen

Gebrochene Herzen und zerstückelte Körper

Bei der Beantwortung der Frage, was die Gesellschaft zusammenhalten sollte, wird gerne von demokratischen oder religiösen Idealen gesprochen (Nächstenliebe, Menschenwürde etc.). In seinem Roman „Der goldene Handschuh“ beschreibt Heinz Strunk einen gesellschaftlichen Kitt, der weit entfernt ist von solchen positiven Leitbildern. Es sind Herrschaft, Macht und das Ausüben von Gewalt zwischen den Geschlechtern, die hier die unterschiedlichen sozialen Milieus und Schichten miteinander verbinden – dies in einer dreifachen Abstufung. Weiterlesen

Verbarrikadiert in der Echokammer

Steile Thesen sind eine dankbare Einrichtung, bieten sie doch große Angriffsflächen. Derart exponiert hat sich vor einigen Jahren der französische Literaturwissenschaftler Pierre Bayard: Ausgerechnet (oder konsequenterweise) der professionelle Leser behauptet, es sei nicht notwendig, Bücher gelesen zu haben, um über sie zu sprechen – mitunter sei die Lektüre gar schädlich für die Kommunikation. Bildung bestehe vielmehr darin, Texte einordnen zu können, anstatt sich in ihren Details zu verlieren. Dass sich hierfür allerdings ein Überblick angeeignet werden muss, dass es zudem Texte gibt, die Erwartungshaltungen hintergehen, dass schließlich über das bloße Einordnen geschlossene gesellschaftliche Räume (Echokammern) entstehen können, in denen Ideologisches am lautesten tönt – all dies flackert bei Bayard nur am Rande auf. Ein Beispiel für eine solche Kakophonie in der geschlossenen Echokammer liefert die (Nicht)Lektüre des Werks von Ernst Bloch durch Joachim Fest. Weiterlesen

Die Kamele sind tot – Staatswerdung im Orient

Wenn gegenwärtig im Nahen Osten, in Vorder- und Zentralasien Krieg und Terror den Alltag beherrschen, die Menschen deshalb flüchten müssen, wird eine wesentliche historische Ursache allenfalls am Rande erwähnt: Als die europäischen Staaten ihre kolonialen Abenteuer beendeten (oder beenden mussten), versündigten sie sich ein letztes Mal an ihren Untergebenen, indem sie willkürlich Staatsgrenzen festlegten – Grenzen, um die die Einheimischen nicht gebeten hatten, die auf Familien- und Stammesverbände keine Rücksicht nahmen, die letztlich einzig in die Welt der abziehenden Kolonialherren passten. Was offiziell als Unabhängigkeit daherkam, war mit einem Ballast beschwert, der eine gesamte Weltregion ins Verderben reißen sollte. Weiterlesen

Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (III)

Auf die Teekesselchen („Taschengeld“ und „Hilfspaket“) folgen die Synonyme – laut Karel Havlíček Borovský die zweite Ursache für die Übel der bürgerlichen Gesellschaft: Identische Dinge werden mit verschiedenen Namen versehen. So kennt etwa das Morden unter den Menschen, der Krieg, der eigentlich keine sonderlich schwer zu durchschauende Sache ist – zwei (oder mehr) Parteien fügen einander möglichst großes Leid zu -, unzählige Benennungen. Weiterlesen

Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (II)

Wörter kennen Temperaturunterschiede – gemessen nicht in Grad, sondern an den Emotionen, die sie begleiten. Es gibt kühle Wörter,  die Nüchternheit und Distanz zum Ausdruck bringen, die auch von Moral-Debatten möglichst großen Abstand halten wollen. Das Wort „Kredit“ zählt zu diesen Wörtern. Und es gibt warme Wörter, die vom Gefühl der Nähe und Geborgenheit, vom Heimeligen begleitet werden. Zu diesen Wörtern zählt die „Hilfe“. Weiterlesen

Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (I)

Langlebige Sätze waren schon immer selten; sie sind es gegenwärtig umso mehr, als sie unter der Masse von dahin geschleuderten Texten zu leiden haben. Nach Sätzen, die Jahrhunderte überdauern können, die ihre Verfasser lange überleben, sucht und fragt in Zeiten von minütlichen Wasserstandsmeldungen und sich gegenseitig übertreffenden Dramatisierungen kaum mehr jemand. Die Resultate des Denkens folgen der Taktung, mit der die Weltereignisse mittlerweile auf die Menschen eindringen – sie werden kurzlebig. Weiterlesen

Videos von der Stange

Das Internet konfrontiert Künstler mit einer Erwartungshaltung ihres Publikums an die Produktivität, mit der die Kreativität nicht Schritt halten kann. Das Internet neigt zur Überdrehung und erstickt auf diese Weise das Neue, das wirklich Innovative. Ein Beispiel: Weiterlesen

Kopflos im Kapitalismus

Es scheint eine Metonymie die Personalabteilungen vieler Unternehmen zu regieren: „Wir brauchen neue Köpfe!“ Während der Ruf noch durch die sterilen, vollverglasten Konferenzräume hallt, ist der Headhunter bereits aktiv geworden; eine Berufsbezeichnung scheint den Kotau vor einer rhetorischen Figur zu machen. Tatsächlich jedoch steht zu befürchten, dass der gegenwärtige Kapitalismus für deratige sprachliche Feinheiten nichts übrig hat, stattdessen die Forderung nach den „neuen Köpfen“ wörtlich meint. Weiterlesen

Fleischbeschau in der Taiga

Es ist das immergleiche Schauspiel im Aufeinandertreffen von Arm und Reich, über Jahrhunderte hat es sich eingeschliffen: Der Unterdrücker, der einem Ketten anlegen wird, kommt im Gewand des Wohltäters. In der Maskerade des Menschenretters sprudeln nichts als große Worte und Versprechungen aus seinem Mund. Wo die Menschen Not und Elend kennen, trifft das Geschwätz auf einen besonders fruchtbaren Boden. Ein solcher Untergrund ist auch in der sibirischen Taiga bereitet, die großen Worte sind an junge Mädchen und ihre Familien gerichtet, ihr Inhalt handelt von einer glanzvollen Karriere als Model, von der weiten Welt und von finanzieller Absicherung für die gesamte Familie. Weiterlesen