Wenn Probleme offensichtlich werden, folgt gerne der Blick in die Vergangenheit, um die Mahner von gestern ausfindig zu machen. Die Suche nach denjenigen, deren Analysen und Prognosen sich als korrekt erwiesen haben, kann als Nebensächlichkeit oder bloße Chronistenpflicht abgetan werden; sie zeigt jedoch, bei wem sich das Zuhören lohnt, wer eine ungetrübte Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen hat. Zu diesen Personen zählte (mitunter) auch der mittlerweile verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2001 erschienenen Essayband „Der neue Mensch“ stechen zwei Kapitel hervor, die auch für die Lage im Jahr 2016 noch erhellend sind. Sie handeln von Trugbildern – dem des deutschen Weltbürgers sowie dessen Umzingelung von Freunden. Weiterlesen
Die Kamele sind tot – Staatswerdung im Orient
Wenn gegenwärtig im Nahen Osten, in Vorder- und Zentralasien Krieg und Terror den Alltag beherrschen, die Menschen deshalb flüchten müssen, wird eine wesentliche historische Ursache allenfalls am Rande erwähnt: Als die europäischen Staaten ihre kolonialen Abenteuer beendeten (oder beenden mussten), versündigten sie sich ein letztes Mal an ihren Untergebenen, indem sie willkürlich Staatsgrenzen festlegten – Grenzen, um die die Einheimischen nicht gebeten hatten, die auf Familien- und Stammesverbände keine Rücksicht nahmen, die letztlich einzig in die Welt der abziehenden Kolonialherren passten. Was offiziell als Unabhängigkeit daherkam, war mit einem Ballast beschwert, der eine gesamte Weltregion ins Verderben reißen sollte. Weiterlesen
Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (III)
Auf die Teekesselchen („Taschengeld“ und „Hilfspaket“) folgen die Synonyme – laut Karel Havlíček Borovský die zweite Ursache für die Übel der bürgerlichen Gesellschaft: Identische Dinge werden mit verschiedenen Namen versehen. So kennt etwa das Morden unter den Menschen, der Krieg, der eigentlich keine sonderlich schwer zu durchschauende Sache ist – zwei (oder mehr) Parteien fügen einander möglichst großes Leid zu -, unzählige Benennungen. Weiterlesen
Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (II)
Wörter kennen Temperaturunterschiede – gemessen nicht in Grad, sondern an den Emotionen, die sie begleiten. Es gibt kühle Wörter, die Nüchternheit und Distanz zum Ausdruck bringen, die auch von Moral-Debatten möglichst großen Abstand halten wollen. Das Wort „Kredit“ zählt zu diesen Wörtern. Und es gibt warme Wörter, die vom Gefühl der Nähe und Geborgenheit, vom Heimeligen begleitet werden. Zu diesen Wörtern zählt die „Hilfe“. Weiterlesen
Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (I)
Langlebige Sätze waren schon immer selten; sie sind es gegenwärtig umso mehr, als sie unter der Masse von dahin geschleuderten Texten zu leiden haben. Nach Sätzen, die Jahrhunderte überdauern können, die ihre Verfasser lange überleben, sucht und fragt in Zeiten von minütlichen Wasserstandsmeldungen und sich gegenseitig übertreffenden Dramatisierungen kaum mehr jemand. Die Resultate des Denkens folgen der Taktung, mit der die Weltereignisse mittlerweile auf die Menschen eindringen – sie werden kurzlebig. Weiterlesen
Eine Jüdin aus Heidelberg
„Wenn sich jetzt so viele herauslügen, sie haben nichts gewußt, so gibt es doch ohne Zweifel Menschen, die es eigentlich nicht gewußt, aber dunkel geahnt haben: da geschieht etwas Schreckliches. Ich denke an eine greise, 80 jährige Jüdin in Heidelberg, die deportiert werden sollte und noch einige Tage Zeit hatte bis zu dem Termin des Abtransports, sie nahm sich das Leben. Da kam der Gestapo-Mann, der alle Tage kam, und wie er sah, sie ist tot, trat er ans Fenster mit wirklicher Ergriffenheit und sagte: Das haben wir doch nicht gewollt.“ (Augstein, Rudolf, „Für Völkermord gibt es keine Verjährung“ – SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophen Karl Jaspers, in: Der SPIEGEL, 11 (1965), S. 64.) Weiterlesen
Herr Niersbach führt Selbstgespräche
Im Profisport – in den Vereinen als auch in den Verbänden – ist es (Un)Sitte geworden über eine hauseigene Berichterstattung zu verfügen. Die Verschmelzung von demjenigen, der berichtet, und demjenigen, über den berichtet wird, mag noch vernachlässigbar sein, wenn die angestellten ‚Journalisten‘ den Neuerwerbungen des Klubs die immer gleichen Fragen stellen oder exklusiv vom Trainingsgelände berichten können, dass sich Spieler XY beim Nachmittagstraining verkühlt hat. Problematisch wird der Journalist, der keiner ist (weil ihm die Unabhängigkeit abgeht) in dem Moment, da es um schwere Anschuldigungen geht, um all die Themen, die der Sportberichterstattung längst zum dauerhaften Begleiter geworden sind – um schwarze Kassen, Korruption und Bestechungen. Weiterlesen
Die ewige Krise
Ihrer Etymologie nach bezeichnet die Krise den Moment, da eine Entwicklung eine andere Richtung einnimmt, in der sie umschlägt (griech. „κρίνειν“: scheiden, trennen, auswählen, entscheiden). Die Krise führt eine Entscheidung herbei, bietet allerdings noch Möglichkeiten zur Intervention. Ihr kommt eine Latenz zu, die in der Gegenwart eine gestaltbare Zukunft aufscheinen lässt: Die Entscheidung ist fällig, aber noch nicht gefallen. Den Krisen der Gegenwart, die zumeist als gefährliche, als düster ausgemalte Abgründe wahrgenommen werden, ist der Charakter einer Momentaufnahme im Schwebezustand abhanden gekommen Weiterlesen
Videos von der Stange
Das Internet konfrontiert Künstler mit einer Erwartungshaltung ihres Publikums an die Produktivität, mit der die Kreativität nicht Schritt halten kann. Das Internet neigt zur Überdrehung und erstickt auf diese Weise das Neue, das wirklich Innovative. Ein Beispiel: Weiterlesen
Gefühlte Demütigungen
Sport ist auf eine gnadenlose Weise ehrlich. Ihm kommt diese – doch eigentlich lobenswerte – Eigenschaft zu, weil ihm – im Unterschied zu vielen anderen Lebensbereichen – Ambivalenz nahezu vollkommen abgeht. Die berühmten Grautöne spielen im Sport fast keine Rolle. Während sich die Menschen im Berufs- und Privatleben von Blendern, Aufschneidern und Unfähigen umzingelt wähnen, wird im Wettkampf rücksichtslos ausgesiebt. Die Auslese ist an Simplizität kaum zu überbieten: Wer zu langsam ist, wer nicht hoch genug springt, wer die notwendige Technik nicht beherrscht, bleibt auf der Strecke. Weiterlesen