Ein aus der menschlichen Art geschlagenes Kind, seine mit ihm ringende Mutter und eine über diesen Kampf zerbrechende Familie – das sind die Zutaten von Doris Lessings Roman „Das fünfte Kind“, einem Buch, das sich an die Rückabwicklung mühsam erlangter Humanität macht.

Harriet und David, beides Widerständige im gesellschaftlichen Aufbruch der 60er und 70er Jahre, finden einander auf einer Betriebsfeier. Dem neu gewonnenen, freien und unkonventionellen Leben ihrer Altersgenossen gegenüber so intolerant wie die just Befreiten und Unkonventionellen ihnen gegenüber, geht der gemeinsame Traum auf altbackenes, biederes Familienglück: ein stets offenes Haus, erfüllt von Kinderlärm; Verwandte und Freunde geben einander die Klinke in die Hand und Harriet und David sind das unerschütterliche Zentrum des großen Trubels. Nach diesem Bild wird gelebt – und das Glück stellt sich tatsächlich ein. Vier gesunde, wohlgeratene Kinder toben schon bald durch das große Haus im Londoner Speckgürtel; der Besuch ist zahlreich, insbesondere zu den Feiertagen und in den Ferien. Ein Leben, das gut in Gang ist, obwohl (oder weil?) es sich gegen die zeitgenössisch dominierenden Vorstellungen vom Glück wendet, schildert Lessing im ersten Viertel ihres Romans. So weit, so unproblematisch.

Der Preis fürs private Idyll wird dabei nur ganz am Rande thematisiert. Die Trutzburg ‚Familie‘ ist von einer Mauer umgeben, die blind macht für die sie umgebende Welt. Die Beschaulichkeit der Kleinstadt beginnt zu bröckeln; Einbrüche häufen sich, Sachbeschädigungen auch; Jugendbanden teilen sich ihre Reviere ein; die Straßen leeren sich, sobald es dunkel wird. Für die Lovatts fällt all dies vom Himmel – ihre Lösung besteht darin, derartige Probleme schlichtweg zu ignorieren. Der Erzähler schlussfolgert: „Immer mehr schien es, als lebten in England zwei Völker, nicht eines – Todfeinde, die einander haßten und von denen keiner auf den anderen hörte“ (Doris Lessing, Das fünfte Kind, Hamburg 2001, S. 38).

Also schnell zurück in die Trutzburg! Doch auch dort bricht kurz darauf mit dem titelgebenden fünften Kind der Schrecken ein. Bereits die Schwangerschaft ist ein einziges Martyrium. Das Kind wühlt und tritt im Unterleib, als wolle es sich gewaltsam einen Weg in die Welt bahnen. Harriet lernt ihren Sohn zu hassen, da ist er noch gar nicht geboren. Um den Schmerzen ein Ende zu bereiten, lässt sie (die ansonsten eigentlich alles gerne dem Lauf der Natur überlässt) schließlich im achten Monat die Geburt einleiten. Kaum auf der Welt, da saugt der kleine Ben die Mutterbrust blau und grün – dabei ein heimtückisches Funkeln stets in den Augen. Will ihn jemand aus der Familie auf den Arm nehmen, mit ihm schmusen, so sieht er oder sie sich mit einem wild strampelnden – oder vielmehr: gezielt austretenden – Brocken aus Widerborstigkeit konfrontiert. Schlägt Ben nicht um sich, so schreit er – nicht den Schrei eines Säuglings, sondern einen irgendwie tierischen, in dem längst vergangene Zeiten nachhallen. Ben, der äußerlich ohnehin mehr einem Gnom oder Troll ähnelt, scheint am Menschlichen nicht zu partizipieren. Da kommt der alten Haushaltshilfe, die schon bald die Flucht ergreifen wird, eine Idee: Es könnte sich um ein Wechselbalg handeln. Und wie froh wäre man als Leser, fände der Roman an dieser Stelle einen der zwei sich zeigenden Auswege aus seinen Albernheiten.

War nicht Ben bereits als Säugling merkwürdig deformiert? Der Kopf gedrungen zwischen den massigen Schultern, auf einem viel zu langen Rumpf sitzend? An Behinderungen lässt das denken, etwa an Kretinismus – einer Unterversorgung mit Schilddrüsenhormonen, die zu schweren geistigen und körperlichen Behinderungen führt. Gerade solche Kinder wurden in Mittelalter und Früher Neuzeit häufig als Wechselbälger gebrandmarkt, die der Teufel im Austausch (eben im Wechsel) für das leibliche Kind Hexen unterschob. Doch diesem Aberglauben bereitete die Medizin bereits im 19. Jahrhundert mit Iod ein Ende. Es kurbelt die Hormonproduktion der Schilddrüse an; Kretinismus gab es im Europa des 20. Jahrhunderts praktisch nicht mehr.

Johann Heinrich Füssli, Der Wechselbalg
Der Teufel tauscht das leibliche mit einem behinderten oder boshaften Kind aus – eine Vorstellung, die bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet war (hier dargestellt auf einer Zeichnung von Johann Heinrich Füssli von 1780); Original

Bleibt also nur noch die phantastische Lösung: In Harriet ist nicht David, sondern tatsächlich der Teufel gefahren und hat mir ihr ein Knäblein gezeugt, die Familie Lovatt zu prüfen. Doch auch dem ist nicht so. Der Roman bewegt sich vollkommen in den Bahnen der dem Leser vertrauten Wirklichkeit. Ben ist folglich das, was es nicht gibt. Er ist ein Mensch ohne jede menschliche Regung. Er ist das ursachenlos Böse, das seine Umwelt tyrannisiert und sich in der Folge am Leid seiner Mitmenschen weidet. Seine Niedertracht ist vorbestimmt, sie ist schlicht vom Himmel gefallen – oder wie sein schon bald vollkommen abweisender Vater einmal mutmaßt: dem Mars entsprungen. Dorthin solle er nach dem Wunsch seines Erzeugers zurückkehren und berichten, was er auf der Erde alles erlebt habe. Die Eltern stochern noch mit einigen anderen abwegigen Erklärungen im Nebel, doch so wie die Risse in der Kleinstadtfassade für sie unergründlich bleiben, so bleibt auch Bens Boshaftigkeit für sie letztlich ohne Ursache. So lebten nun, seit der Geburt des fünften Kindes, auch innerhalb des Idylls zwei Völker, die einander nicht zuhörten und sich zu hassen begannen.

Dies nun macht den reaktionären Zug von Lessings Buch aus: Einen Menschen vollkommen unmenschlich zu zeigen, ohne sich in Phantastik zu verabschieden, lässt den bald aufkommenden Wunsch der Familie nur allzu verständlich erscheinen: Ben muss weg! Wenn seine Bosheit ohne Ursache ist, kann es auch keine Besserung geben. Entweder die Familie geht zugrunde oder das fünfte Kind. Diese Wahl aufzustellen, macht den inhumanen Kern des Romans aus. (Im Übrigen hat der Text auch nichts Schauerliches an sich, lebt das Grauen doch im Ambivalenten. Bei Ben jedoch liegen alle Karten auf dem Tisch. Die Frage, was er ist, ist – den anhaltenden Spekulationen verschiedener Figuren zum Trotz – eindeutig zu beantworten: ein böser Mensch.) Bevor das Entfernen Bens aus der Familie schließlich offen diskutiert wird, hat der kleine Satansbraten mit den außergewöhnlichen Kräften bereits den Hund von Freunden sowie den Familienkater auf dem Gewissen. Jeder drittklassige Gruselstreifen (die in der Regel alles, nur nicht gruselig sind) hätte diesen Weg eingeschlagen. Auch einem Geschwisterkind will Ben an die Gurgel, kann allerdings noch rechtzeitig gestoppt werden. Als seine Brüder und Schwestern nur mehr hinter verriegelten Türen schlafen, die Oma mit blauem Auge herumläuft und Verwandte und Freunde schon längst nicht mehr zu Besuch kommen, da ist es Bens Vater, der das Zepter in die Hand nimmt. Er lässt seinen Filius in ein Heim für unrettbare Fälle verfrachten.

Kaum ist Ben aus dem Haus, geht ein Seufzer der Erleichterung durch die terrorisierte Familie. Nur Harriet hält es nicht aus. Sie pocht schon bald auf einen Besuch, macht sich alleine auf den Weg nach Nordengland und findet ihren Sohn verschnürt in eine Zwangsjacke, sediert und vollgekotet in einer Gummizelle wieder. Den anderen Heimbewohnern ergeht es nicht besser. Wollte der Roman die Grässlichkeit derartiger Institutionen verdeutlichen, es ist ihm gelungen. Allein, es bleibt das riesige Problem, dass er die unmenschliche Verwahranstalt zuvor zur Notwendigkeit gemacht hat. Schließlich ist sie ausnahmslos bevölkert von aussichtslosen Fällen.

Harriet bringt Ben heim und päppelt ihn wieder auf. Doch das Kind bleibt eine Zumutung – und die Familie zerbricht endgültig. Die älteren Kinder wollen ins Internat, die jüngeren ziehen zur Oma oder bekommen einen psychischen Schaden und David flüchtet sich in die Arbeit, nur um nicht zu Hause sein zu müssen. In der Beschreibung von Bens Heranwachsen verdummt sich der Roman dann nicht, bei Harriet abzuladen, was er doch eigentlich von vornherein ausgeschlossen hatte – und zwar, dass es doch einen Verantwortlichen für Bens Verhalten geben müsse. So spürt die Mutter die anklagenden Blicke von Schulleiterin, Kinderarzt und Psychotherapeutin, nachdem diese den Wüterich in Augenschein nehmen durften. Hier wird Schuld verteilt für etwas, für das es vorgeblich doch gar keinen Schuldigen geben sollte. Der Roman bringt jene Art von Realismus in Anschlag, der er sich selber so hartnäckig verweigert. In der Gesellschaft als Rabenmutter verurteilt, in der Familie als diejenige, die einst den Teufel zurückholte, ist Harriet nun zweifach isoliert. Linderung stellt sich erst ein, als Ben – zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal eingeschult – Aufnahme in eine Clique Jugendlicher findet, die ihn ausgiebig beleidigen und niedermachen. Man merke: Wer schlecht ist, will schlecht behandelt werden. Weder über derartige Schlussfolgerungen noch über das Hanebüchene der neuen Konstellation wundert man sich zu diesem Zeitpunkt mehr.

Der Roman läuft schließlich aus mit einigen weiteren Grausamkeiten Bens. Und als er sich, noch vorpubertär, einer Gang anschließt, zu deren stillem Anführer er schon bald avanciert, schließt sich auch der Kreis zum Sozialen, das zu Beginn des Textes kurz gestreift wurde. Was die Lovatts Jahre zuvor noch penibel außerhalb ihres Familienidylls hielten – jugendliche Verwahrlosung und Rohheit –, verdreckt nun das eigene Wohnzimmer. Ben hockt mit seinen Kumpanen den lieben langen Tag vor der Glotze, schaufelt Fast-Food in sich hinein und vermüllt das Haus. Abends geht es dann auf Beutezug. Hier nun greift der von Lessing literarisch ausgepinselte, nicht-kausale Determinismus vom bösen Kind auf die Gesellschaft über. So hält der Erzähler etwa für die Hauptschule, die Ben besucht, folgende Gedanken parat: „Bekanntlich haben alle diese Schulen einen Bodensatz von Unerziehbaren, nicht Assimilierbaren, Hoffnungslosen, die von einer Klasse in die andere mitgeschleppt werden und nur auf den glücklichen Moment der Entlassung warten“ (ebd., S. 199 f.). So sind sie halt, die Kinder aus dem Bodensatz, ändern kann man da leider nichts, schließlich haben sie schon als Säuglinge versucht, ihren Müttern die Brustwarzen abzugnaueln. Auf derlei Unsinn läuft Lessings Roman letztlich hinaus.

Die Autorin war in jungen Jahren Kommunistin – zwar mehr eine aus Glauben denn aus Intellekt, aber doch eine Kommunistin. Viel davon hat es offensichtlich nicht in die 80er Jahre geschafft (an deren Ende „Das fünfte Kind“ erschien). Vielleicht ist das Elaborat schlicht als Ausdruck enttäuschter Hoffnungen zu verstehen, die Bitterkeit und Zynismus bekanntlich am besten gedeihen lassen? Vielleicht fordert auch nur ein knappes Jahrzehnt Thatcherismus hier seinen Tribut ein? Die Eiseskälte im Sozialen bahnt sich ihren Weg in die Literatur? Was es auch sei, eines schien für Lessing seinerzeit festgestanden zu haben: Der soziale Kollaps ist nicht mehr weit – aber zumindest haben wir nun jemanden, auf den während des Untergangs mit dem Finger gezeigt werden kann: Ben und seinesgleichen.

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