Der Mangel und das Zuviel am Krankenbett

Die Frage geht an den Kranken: „Fehlt Ihnen etwas?“, „Was fehlt Ihnen denn?“ Millionenfach vernommen, in Arztpraxen, in Kinderzimmern, in Büros und Schulen. Die Krankheit erscheint als ein Mangel, ein Mangel an Gesundheit, die dem Kranken abhanden gekommen ist. Tatsächlich sind viele Krankheiten jedoch durch ein Zuviel, nicht durch einen Mangel gekennzeichnet: ein Zuviel an Viren und Bakterien, ein Zuviel in Gestalt von Geschwüren und Tumoren, ein Zuviel auch in der Gedankenwelt, in der plötzlich ein zweites Ich auftaucht, jemand einen zwingt die eigenen Atemzüge zu zählen oder längst verstorbene Verwandte wieder auferstehen. „Was fehlt Ihnen denn?“ – die korrekte Antwort müsste folglich lauten: „Nichts!“ Weiterlesen

Kreuzberg in der Karibik

„Zurück in Bismuna“, Dokumentarfilm von Uli Kick: Christian geht in Berlin auf den Strich, nächstes Geld nächster Schuss, fünf-, sechsmal am Tag – der Rhythmus eines Heroinabhängigen. Ende der 90er Jahre: Christian ist in Bismuna, im Dschungel Nicaraguas, ein deutsches Sozialprojekt für in der Heimat aufgegebene Jugendliche. Nichts als Arbeit, Holz hacken, Wasser schleppen, alles auf Ursprung, alles in Ordnung so weit – der Rhythmus eines Indios, zumindest näherungsweise. Zurück in Deutschland: aus dem Flieger in den Zug, so war der Plan; der Zug ist weg, Zeit ist da, Geld auch: nächstes Geld nächster Schuss, so schnell geht das. Freunde hast du nicht, in dieser Szene denkt jeder nur an sich, sagt Christian. Weiterlesen

Der Werktag als ewiger Sonntag

Flüchtig besehen passen sie nicht zusammen: das große Haus steht der kleinen Wohnung gegenüber, der Überfluss dem Begnügen mit dem Notwendigsten, ein von raschem Wandel geprägtes Leben einem weitestgehend statischen. Nein, der Reiche, der von fremder Hände Arbeit oder gleich von seinem Vermögen lebt, hat mit dem Arbeitslosen, der sich freiwillig mit seiner Sozialhilfe begnügt, noch jedes Jobangebot ausgeschlagen hat, auf den ersten Blick nichts gemein. Und doch gleichen sie einander in ihren Wunschlandschaften: beide träumen – der eine im Himmelbett, der andere auf der Pritsche – vom süßen Leben ohne Mühsal. Weiterlesen

Der Tod des Gewöhnlichen, das Gewöhnliche des Todes

Da hält sich der Pfarrer auf, mit all den Stationen und Eckpunkten eines Lebens, während der Trauerfeier – und trifft doch fast gar nichts. Es gilt wohl das Besondere eines Lebens herauszuschälen. Die Informationen, die ohnehin fast alle Anwesenden kennen, werden zuvor bei der Familie erfragt und schließlich mit der gebotenen Schwere in der Stimme abgespult. Trost gibt es in diesem Fall wohl nur durch die Erwartbarkeit: es wird das geliefert, was seit jeher an dieser Stelle geliefert wurde, was dereinst auch über einen selber ‚abgeliefert‘ werden wird. Vielleicht ist diese Oberflächlichkeit beabsichtigt, hören doch ohnehin viele nicht recht zu, vielleicht aber ist sie auch ein großer Irrtum. Weiterlesen

Die Rückkehr des Helden (zum Zweck seiner Demontage?)

Der Held war in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitestgehend ausgestorben. Nicht nur hatten die Nationalsozialisten ihn mit einer Vielzahl unmenschlicher Eigenschaften besudelt, sie hängten ihm auch unablösbar den Tod als sichersten Weg an, um zu (Helden)Ruhm zu gelangen. Nun kehrt der Held gegenwärtig in den Diskussionen um couragierte Bürger zurück. Weiterlesen