Was Julian Barnes Roman über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch (Der Lärm der Zeit) thematisch hergibt, ist ein exzellenter Aufguss. Herausragend allerdings machen den Text seine vielfältigen Verdichtungen, die Einkapselung eines Lebens, mitunter in nur wenigen Sätzen, ohne dass hierbei der Biografie Schostakowitschs erzählerisch Gewalt angetan wird.

Der Aufguss (der besseren Sorte)

Im Roman löse sich zuletzt doch jeder Konflikt auf, der Ambivalenz werde ein Ende bereitet, so sinnieren in einem metapoetischen Exkurs Erzähler und Figur im Gleichschritt der erlebten Rede. Aber das Leben sei nun einmal kein Roman, und deshalb komme es für Dmitri Schostakowitsch zu keinerlei Auflösung. Widersprüchlich bis zum letzten Atemzug bleibt sein Verhältnis zur „Macht“, zu Diktator und Partei. Beginnend mit einem Besuch Josef Stalins im Bolschoi-Theater, wo dieser im Januar 1936 Schostakowitschs zweite Oper Lady Macbeth von Mzensk hört, bewegt sich der Komponist – damals knapp dreißig Jahre alt – zwischen Genickschuss, Annäherung an die Mächtigen und seiner ganz eigenen inneren Emigration. Stalin, der im Roman bespöttelte „Große Musikwissenschaftler“, verlässt die Aufführung vorzeitig – er saß ungünstig über den Blechbläsern, der Dirigent hatte wohl auch nicht seinen besten Tag. Am folgenden Morgen erscheint in der Prawda, Sprachrohr des Diktators, ein Verriss der zuvor gefeierten Oper, betitelt Chaos statt Musik. Der Komponist wird verdächtigt, abtrünnig geworden zu sein – dem Sozialismus, der Partei und dem Volk. In der Hochzeit der stalinistischen Säuberungen kommt dies eigentlich einem Todesurteil gleich. So wartet Schostakowitsch denn auch in den folgenden Nächten, mit Koffer und Hut, abholbereit vor seiner Wohnung; er will Frau und Kind jede Aufregung ersparen; doch die Geheimpolizei kommt nicht, eine Vorladung wird kurzfristig abgesagt.

Barnes beschreibt den weiteren Umgang der Mächtigen mit dem untergebenen Künstler sicher und kenntnisreich; und doch ist der Roman in dieser Hinsicht nicht mehr als ein vielstimmiges Echo aus bereits Bekanntem. Dies kann kein Vorwurf an den Autor, lediglich eine Feststellung sein: Die Instabilität der Zeichen, die Willkür in der Bewertung der Kunst – gestern Meisterwerk, heute verdammungswürdiger Schund – bringt etwa Ervin Sinkó, ein ungarischer Schriftsteller, der sich in den 30er Jahren in der Sowjetunion aufhielt, in seinem Roman eines Romans auf den Punkt: „Auch die Zeitung nehme ich immer wieder zur Hand, nur damit ich mir über die Wirklichkeit, die hier zu überschauen gar nicht einfach ist, so schnell wie möglich, ein endgültiges und klares Bild machen kann. Man glaubt über irgend etwas [sic] nun endlich genau Bescheid zu wissen und erkennt in der nächsten Stunde, daß man seine Schlussfolgerungen wieder einmal revidieren muß“ (Sinkó, Ervin, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935-1937 (mit einem Nachwort von Alfred Kantorowicz), Berlin 1990, S. 102). Das Fähnchen nach dem Winde, der nichts anderes ist als Stalins fauliger Atem, halten nicht nur die Zeitungen, sondern auch das persönliche Umfeld: Freunde und Kollegen, die jäh erkennen, dass formalistisch-volksfeindlicher Müll vorliegt. Niemand möchte Teil einer Verschwörung sein; erst recht nicht, wenn es diese außerhalb der Phantasie der Herrschenden nie gegeben hat. Die eigene Unschuld ist ohne Belang, die Wahrheit auch – „Was beschlossen war, war beschlossen“ (Barnes, Julian, Der Lärm der Zeit, Köln 2017, S. 65). Überzeugungen müssen aufgegeben werden, man wird zum Spielball; auf die Frage nach dem „Warum“ gibt es keine Antwort mehr.

Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitch bei der Bachfeier
„Er war immer penibel gewesen. Er ging alle zwei Monate zum Friseur und ebenso oft zum Zahnarzt – da er ebenso ängstlich wie penibel war“ (Barnes, Der Lärm der Zeit, S. 185). Lizenz: CC by-sa 3.0, Rechteinhaber: Deutsche Fotothek, Original: Portrait Dmitri Schostakowitsch

Den Klassiker zu Hysterie und Terror innerhalb der sowjetischen Willkürherrschaft hat Alexander Solschenizyn mit seinem Archipel Gulag geschrieben – in einzelnen Passagen hallt der Text in Barnes‘ Roman nach: der ‚Saboteur‘, den die Frage nach den nächsten Zugverbindungen enttarnt hat, der Vorgeladene, der mit dem Schlimmsten rechnet – und wieder nach Hause geschickt wird, schließlich auch das Urteil, wenn es um die Haltbarkeit staatlicher, das heißt Stalin’scher Vorgaben geht: „‘Untergrabung und Schwächung der Macht‘ war jeder Gedanke, der in Inhalt und Intensität hinter der diestägigen Zeitung zurückstand. Denn es schwächt alles, was nicht stärkt! Denn es untergräbt alles, was nicht ganz entspricht!“ (Solschenizyn, Alexander, Der Archipel Gulag, Bern 1974, S. 70). Exakt diesen Launen war Schostakowitsch ausgesetzt; auch erfuhr er, wie schwierig es war, jene Vorgaben auszumachen, denn das letzte Wort, die Order, führte Stalin gemäß Solschenizyn nie selber im Mund – der titelgebende Lärm der Zeit bedeutete zugleich eine unheimliche Stille um den Diktator; auch sie ist in Barnes‘ Roman eingefangen: So kommt es zu einem persönlichen Anruf Stalins beim Komponisten. Er möchte diesen zu einem Kongress in die Vereinigten Staaten entsenden, um ihn endgültig auf die Parteilinie festnageln zu können. Schostakowitsch windet sich, schiebt zunächst gesundheitliche Probleme vor, ehe er den „Großen Musikwissenschaftler“ fragt, was er den Amerikanern denn entgegnen solle, konfrontierten sie ihn mit dem Verbot einiger seiner Werke in der Sowjetunion. Stalins Reaktion hat seine ganz eigene morbide Komik, die auf Linie mit dem Diktum Solschenizyns liegt: „Wie meinen Sie das, Dmitri Dmitrijewitsch, dass Ihre Musik nicht gespielt wird?‘ ‚Sie ist verboten. Ebenso wie die Musik vieler meiner Kollegen im Komponistenverband.‘ ‚Verboten? Von wem verboten?‘ ‚Vom Staatlichen Repertoire-Komitee.‘ (…) ‚Und wer hat das angeordnet?‘“ (Barnes, Der Lärm der Zeit, S. 110-111) Stalins gespielte Ahnungslosigkeit hat System: Es gilt das Wort des Großen Führers, ohne dass es offiziell je ausgesprochen wurde. Hier nun, im Unbestimmten, gedeiht die Angst am besten, nicht dort, wo alle Karten bereits auf dem Tisch liegen. Dass Stalin es in dieser Art des Terrors zur Meisterschaft gebracht hat, ist zwar nichts Neues. Doch Barnes hat diesen Zug hervorragend eingefangen.

Auf gleichermaßen wenig Neues wird der Leser hinsichtlich der Frage stoßen, ob Kunst innerhalb einer Diktatur existieren kann. Grundsätzlich gilt hier das Wort Ernst Blochs: Kein Tyrann kann in Malerei, Musik und Dichtung Maßstäbe gelten lassen, an denen er selber gemessen werden könnte. Für Schostakowitsch bedeutet dies, dass in Zeiten, da sich seine Musik nach den Grundsätzen von Partei und Diktator zu richten hat, sie nur mehr als Schrumpfstufe bestehen kann. Ihr ist die Wahrheit vermintes Gelände, das zu betreten mit dem Tode bestraft wird. Was bleibt, ist das Uneigentliche – die Ironie etwa. Schostakowitsch macht von ihr reichlich Gebrauch; wenn man so möchte, ist sie das Reich seiner Emigration: So trägt er dutzendweise Reden, die er nicht persönlich geschrieben, ja zuvor nicht einmal gelesen hat, mit einer leierhaften Prosodie vor, die so gar nicht zum feierlichen oder kämpferischen Inhalt passen will; jeder Kritik von offizieller Seite an seinem Leben und Werk pflichtet er irgendwann nicht mehr nur bei, er überbietet sie, unterdessen seine Frau hinter geschlossener Tür ihr Lachen unterdrücken muss. Eine Kostprobe: „‘Gegen Seine Exzellenz [Stalin] bin ich ein Wurm. Ich bin ein Wurm‘“ (ebd., S. 169); und auch in seiner Musik setzt er die Ironie ein, etwa im letzten Satz seiner Fünften Symphonie, in dem er den Triumph dem Hohn preisgibt; Stalin und seine Häscher, mit ihren „Eselsohren“ (ebd., S. 80), hörten indes nur die Verherrlichung ihres Regimes, weil sie jeder Ambivalenz gegenüber unempfindlich geworden waren.

Doch selbst diese Siege im Kleinen fordern von Schostakowitsch ihren Tribut: Am Ende seines Lebens steht die Frage, wie weit ihn die Ironie denn nun gebracht habe, wie sehr oder ob sie überhaupt erfasst worden sei, ob den Menschen bewusst gewesen sei, dass hier jemand in Uneigentlichkeit schreibt und spricht und komponiert, jemand, der die Ironie nicht zynisch, in der Gewissheit, es gehe sowieso alles den Bach herunter, einsetzt, sondern in der aufrichtigen Hoffnung auf bessere Zeiten. Sein Urteil ist vernichtend: „Man kann nicht Briefe unterzeichnen und sich dabei an die Nase fassen oder hinter dem Rücken die Finger kreuzen und darauf vertrauen, dass andere schon erraten, dass man es nicht so gemeint hat. Und so hatte er Tschechow verraten und Verleumdungen unterschrieben. Er hatte sich selbst verraten, und er hatte die gute Meinung verraten, die andere noch von ihm hatten“ (ebd., S. 222). In gänzlich unironischen Zeiten, in denen zwischen totalem Bekenntnis und Vernichtung (nicht nur der individuellen, sondern auch der des persönlichen Umfeldes) keinerlei Spielraum ist, in denen auch die Menschen zu verängstigt sind, um sich auf einen doppelten Boden führen zu lassen, ist die Ironie ein stumpfes Werkzeug. Zugleich jedoch ist sie für den Daheimgebliebenen das einzige Werkzeug, um dem Flüstern der Geschichte im Lärm der Zeit vielleicht doch noch das ein oder andere Ohr zu verschaffen.

Derweil hat Stalin selber mit der von ihm herbeigeführten Einfalt zu kämpfen: In einer von Milan Kundera in dessen Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit kolportierten Anekdote sitzt der Diktator beim Essen mit den obersten Parteigenossen zusammen. Stalin erzählt, wie er einst auf der Jagd gewesen sei und vierundzwanzig Rebhühner erblickt, aber nur zwölf Patronen dabeigehabt habe. Da erschoss er zwölf der Hühner, ging dreizehn Kilometer zu seiner Hütte, holte Patronennachschub, ging den weiten Weg wieder zurück und erschoss die verbliebenen zwölf Hühner. Für die Anwesenden ist die Geschichte unverständlich: „‘Was? Willst du wirklich sagen, die Rebhühner wären nicht von ihrem Ast aufgeflogen?‘, sagte Chruschtschow. ‚Ganz genau‘, antwortete Stalin, ‚sie saßen noch immer an derselben Stelle‘“ (Kundera, Milan, Das Fest der Bedeutungslosigkeit, Frankfurt am Main 2016, S. 30). Dass Stalin sich einen äußerst dürftigen Scherz erlaubt haben könnte, kommt den Genossen nicht in den Sinn. Sie hatten verlernt, ihn nicht beim Wort zu nehmen. Ob diese Anekdote im Übrigen der Wahrheit entspricht, spielt – wie der Erzähler in Barnes‘ Roman über derlei Geschichten anmerkt – keine Rolle. Auf ihre Bedeutung kommt es an.

Die Kapseln

Wenn es also des Inhalts wegen Barnes‘ Roman nicht zwingend gebraucht hätte (gleichwohl er auch in dieser Hinsicht absolut lesenswert ist), so doch umso mehr wegen dessen formaler Aufbereitung. Allenthalben werden Verdichtungen erkennbar, die es Barnes erlauben, Schostakowitschs Leben in all seiner Widersprüchlichkeit auf nur knapp 250 Seiten einzufangen. Dies beginnt mit der durchgehenden Etablierung von zwei Erzählebenen, wobei die primäre Ebene lokal stets eng begrenzt ist: So sitzt der Komponist als knapp Dreißigjähriger auf der Treppe vor seiner Wohnung und wartet auf seine Verhaftung; als Mittvierziger befindet er sich im Flugzeug auf dem Heimweg von jener Konferenz in den Vereinigten Staaten, zu der Stalin ihn persönlich beorderte; am Ende seines Lebens schließlich ist es ein Auto, in dem sich Schostakowitsch aufhält. Von diesen eng umgrenzten Orten, physischen Einkapselungen, erfolgt die erinnernde Ausbreitung einzelner Episoden, an die sich immer wieder Reflexionen über den Totalitarismus sowie die Stellung der Kunst und des Künstlers in diesem anknüpfen. Doch letztlich genügen bereits jene drei Orte, um die Biografie Schostakowitschs zu erfassen: der junge, von der Hinrichtung bedrohte Künstler auf der Treppe, der durch Zufall verschont bleibt; dann im Flugzeug, irgendwo über dem Atlantik, der erste Komponist eines Staates, den er verachtet – zerrieben zwischen West und Ost, reichlich Talent geopfert auf dem Altar der Weltpolitik; schließlich der alte Komponist, totgekuschelt von der mittlerweile vegetarisch gewordenen, nicht mehr fleischfressenden Macht; ausgestattet mit Auto, eigenem Chauffeur und Datscha wird er nicht müde zu betonen, dies sei die schlimmste Zeit von allen, schlimmer noch als jene der Todesangst auf der Treppe. Die von Barnes gewählten Orte sind symbolisch im Sinne Goethes: Hier kann im Besonderen das Allgemeine geschaut werden.

Auch das Erinnern und Sinnieren folgt dem Prinzip der Einkapselung. Auf den ersten Seiten des Romans werden in komprimierter Form, in nur wenigen Sätzen, alle zentralen Figuren und Episoden des Textes angerissen: etwa die fordernde, dominante Mutter, die Schostakowitsch ihr gesamtes Leben nicht aus ihren Klauen ließ, der Marschall, sein Förderer in jungen Jahren, der Stalins Säuberungen zum Opfer fiel, das Hundegebell bei einem Konzert in Charkow, schließlich Eure Exzellenz selber, die Herzegowina Flor rauchte, den Tabak hierfür aus den Zigaretten prokelte und den Schreibtisch mit Papier und Pappröllchen vermüllte. All diese Andeutungen können als vorausweisende (kataphorische) Kapseln aufgefasst werden, die im Laufe des Romans aufgebrochen werden. Einige von ihnen haben zugleich einen allegorischen Charakter, etwa eine Kindheitsepisode mit der Mutter, die den noch jungen Schostakowitsch auf dessen Drohung, er werde zum Nachbarn ziehen, wenn man ihn weiterhin ungerecht behandle, am Handgelenk packte und persönlich hinüberbegleiten wollte. Doch dem Kind sinkt unterwegs der Mut, die Mutter spürt dies, lockert ihren Griff, sodass er schließlich zu weinen beginnt ob der eigenen Feigheit und umkehrt. Es ist naheliegend in der Mutter die spätere Staatsmacht personifiziert zu sehen, die Schostakowitsch unter Kontrolle hat und erst locker lässt, als sie sicher ist, dass ihn zu viel Freiheit schreckt und er von alleine in den Schoß der „Macht“ zurückkehren wird – eine Rückkehr in Scham zwar, aber doch eine Rückkehr. Den Fehler, an diesem für den Roman zentralen Punkt zu moralisieren, begeht Barnes im Übrigen nicht. Wie sollte man auch, wenn als Preis der Aufrichtigkeit der eigene Tod und der aller Menschen, die man liebt, aufgerufen ist.

Dmitri Schostakowitsch (Mitte) mit seinen Komponisten-Kollegen Sergei Prokofjew (links) und Aram Chatschaturjan
„[S]ein Grundzustand war der tiefer Angst. Er war durch und durch neurotisch. Nein, wieder war es noch schlimmer: Er war hysterisch.“ (Barnes, Der Lärm der Zeit, S. 49). Dmitri Schostakowitsch (Mitte) mit seinen Komponisten-Kollegen Sergei Prokofjew (links) und Aram Chatschaturjan. Original

Ebenfalls allegorisch sind Sätze, die im Fortgang des Romans die Lebenssituation des Komponisten einkapseln. So heißt es etwa im Zusammenhang mit dem Besuch Stalins im Bolschoi: „Er erinnerte sich noch an den Gedanken, dass die Regierungsloge extra mit Stahlplatten gepanzert war, um die dort Sitzenden vor einem Mordanschlag zu schützen. Dass die Intendantenloge [wo er saß] aber nicht so gesichert war“ (Barnes, Der Lärm der Zeit, S. 31). An die Hunde von Charkow erinnert er sich auf der Treppe sitzend: „Jetzt brachte seine Musik weitaus größere Hunde zum Bellen. Die Geschichte wiederholte sich: erst als Farce, dann als Tragödie“ (ebd., S. 59). Und sein gesamtes Leben, wollte man es zusammenpressen und in einem Satz, nicht ohne Komik, erfassen, so ist wohl schwer ein besserer zu finden als der folgende: „Na, dann wollen wir mal, wie der Papagei zu der Katze sagt, die ihn am Schwanz die Treppe runterzieht“ (ebd., S. 185).

Schließlich ist dem Roman ein Hang zum Aphorismus zu diagnostizieren, der ebenfalls auf Verdichtung weist. So heißt es etwa über die vegetarisch gewordene Staatsmacht: „Früher hatten sie ausgelotet, wie weit sein Mut reichte, jetzt loteten sie aus, wie weit seine Feigheit reichte“ (ebd., S. 176). Dem sturen Idealisten wird entgegengehalten: „Doch ja, zwischen dem Prinzip und seiner Ausführung lag oft recht viel Leid“ (ebd., S. 187). Die Beispiele ließen sich forstsetzen, wichtiger jedoch ist, dass sie alle eine Tiefendimension haben, nie kontextlos sind, sondern stets auf Schostakowitschs Schicksal weisen.

Zum Abschluss noch eine Einkapselung, in Gestalt eines Trinkspruchs, der letztlich den gesamten Roman, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umschließt: Schostakowitschs Erinnerungen werden gerahmt durch eine Begebenheit, die sich irgendwo in der russischen Pampa auf einem Bahnhof während des Zweiten Weltkriegs zutrug. Es sind die einzigen Passagen im Roman, in denen die Erzählperspektive nicht an die Figur des Komponisten gebunden ist: Ein Bettler, dem im Krieg beide Beine amputiert werden mussten, rollt auf einem Brett dem wartenden Zug entgegen. Schostakowitsch und sein Begleiter steigen aus und trinken mit dem Bettler ein Glas Wodka. Wie es der Volksmund sagt, stehen die Drei auf dem Bahnsteig beisammen – „Einer zum Hören, einer zum Erinnern und einer zum Trinken“ (ebd., S. 7, 224). Die Rolle des Komponisten ist klar: Er hört den perfekten Dreiklang der aneinander klirrenden Gläser; der Bettler will nur mehr von Tag zu Tag überleben, dafür braucht sein geschundener Körper die Betäubung durch den Alkohol – er ist der Trinkende; bleibt noch derjenige, der sich erinnert, dessen Name allerdings nicht genannt wird, an den sich auch Schostakowitsch nicht erinnern kann. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass es sich bei diesem Dritten um den Erzähler handelt, der das Leben des Komponisten in erlebter Rede darbietet; derart mit ihm verschmilzt, weil Erzähler- und Figurenrede häufig nicht klar unterschieden werden können. Und so ist formal die ganze Vagheit aufgerufen, die Schostakowitschs Biografie bestimmte. Was ist hier mit seinem Leben gemacht worden? Ist jener Dritte, der sich erinnert, ein Freund gewesen? Oder vielleicht doch ein Vertreter der „Macht“? Genau dies ist die Unbestimmtheit, die ängstigte.

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