Zweierlei Verdeckendes

Manche Dinge stehen am falschen Ort; Gewohnheit oder Täuschung können sie dort platzieren – das eine ist menschlicher Irrtum beruhend auf eingeschliffenen Wahrnehmungsschemata, das andere Herrschaftsinstrument. Diese Differenzierung lässt sich anhand Swetlana Alexijewitschs Tschernobyl-Buch verdeutlichen – was zuvorderst ein literarischer Text ist, steht im Buchgeschäft bei den Sachbüchern, was eine Reaktorkatastrophe ist, wird von vielen Betroffenen unter die Kriege sortiert. Weiterlesen

Barnes‘ Kapseln

Was Julian Barnes Roman über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch (Der Lärm der Zeit) thematisch hergibt, ist ein exzellenter Aufguss. Herausragend allerdings machen den Text seine vielfältigen Verdichtungen, die Einkapselung eines Lebens, mitunter in nur wenigen Sätzen, ohne dass hierbei der Biografie Schostakowitschs erzählerisch Gewalt angetan wird. Weiterlesen

Maxim Biller und die intellektuelle Bescheidenheit

Der Titel dieses Blogs mag zunächst einen fahlen Beigeschmack haben; vielleicht auch dann noch, wenn seine Erläuterung vernommen wurde: Warum sich annähern, anstatt nach letzten Gewissheiten zu suchen? Da kann es nicht schaden, einmal einen Blick auf das Negativ, auf all jene Dinge, die an dieser Stelle keinen Platz finden sollen, zu werfen. Einer der Krawallbrüder des deutschen Feuilletons, Maxim Biller, lieferte für diesen Zweck unlängst ein brauchbares Beispiel in der ZEIT: seitenweise vor Ekel hervorgewürgte Tiraden, Simplifizierungen und unverschämte Vergleiche, adressiert an die politische Linke vergangener und gegenwärtiger Zeiten. Biller verkündet seine Letztwahrheiten mit einem Furor, der für Gegenstimmen, für das Abwägen von Argumenten, keinerlei Platz lässt. Dass ein solches Vorgehen wider jede intellektuelle Bescheidenheit seit Jahrzehnten seine Masche ist, um Aufmerksamkeit zu generieren, macht es nicht besser. Weiterlesen

Eine konturlose Welt – Über den sowjetischen Totalitarismus

Die Revolution, ja jeder kleine Aufruhr ruft zunächst „Freiheit“, womit zuvorderst die „Befreiung“ von bestimmten Zuständen oder Personen gemeint ist (Isaiah Berlin). Stellen sich Erfolge ein, so ist die Freiheit vollkommen exponiert und ungeschützt – sie kann einem leicht wieder genommen werden. Uneingeschränkte Freiheit kann auch eine Bürde sein; sie zu delegieren, es sich bequem zu machen, erscheint manch einem dann verführerisch; vielleicht wächst vereinzelt gar die Sehnsucht nach einer starken Hand. In Russland bedienten 1917 die Bolschewisten diese Sehnsucht und sie packten derart fest und geschickt zu, dass es quasi über Nacht zu einem ‚Einfrieren‘ der Zustände kam: Aus einer Möglichkeit unter vielen wurde ihr Weg zum einzig gangbaren. Weiterlesen

Mahnungen von gestern – Über Weltbürger und Feindbilder

Wenn Probleme offensichtlich werden, folgt gerne der Blick in die Vergangenheit, um die Mahner von gestern ausfindig zu machen. Die Suche nach denjenigen, deren Analysen und Prognosen sich als korrekt erwiesen haben, kann als Nebensächlichkeit oder bloße Chronistenpflicht abgetan werden; sie zeigt jedoch, bei wem sich das Zuhören lohnt, wer eine ungetrübte Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen hat. Zu diesen Personen zählte (mitunter) auch der mittlerweile verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2001 erschienenen Essayband „Der neue Mensch“ stechen zwei Kapitel hervor, die auch für die Lage im Jahr 2016 noch erhellend sind. Sie handeln von Trugbildern – dem des deutschen Weltbürgers sowie dessen Umzingelung von Freunden. Weiterlesen

„Willkommen in der Hölle“

Am 21. Oktober 1999 geht ein halbes Dutzend russischer Boden-Boden-Raketen auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny nieder. Die Sprengköpfe treffen zivile Einrichtungen – unter anderem eine Moschee, ein Krankenhaus sowie den Zentralmarkt der Stadt. Mehr als einhundert Zivilisten werden getötet. Rückblickend erscheinen die Ereignisse rund um diesen 21. Oktober wie eine Blaupause für das Weltgeschehen der folgenden sechzehn Jahre: Sie deuten das Erstarken des internationalen, islamistischen Terrorismus an, zeigen die Hilflosigkeit der Staaten, dieser neuen Bedrohung zu begegnen, sowie das Verlassen rechtsstaatlicher Grundsätze als Reaktion auf diese Hilflosigkeit. Weiterlesen

Die westeuropäische Linke und Russland

Die Nachsicht der westeuropäischen Linken mit Russland hat eine Geschichte, die bis zur Oktoberrevolution von 1917 zurückreicht. Auf diesem Ereignis bauten Sozialisten der 20er und 30er Jahre ihr Sehnsuchtsland, das in den Vorstellungen umso stärker gedieh, je mehr der Faschismus im eigenen Land um sich griff. Alles, was einen in der Heimat umgab, war fremd. Das Eigene lag in der Ferne, in der Wahlheimat, die man nur vom Hörensagen kannte. Bei manch einem wucherte die Sehnsucht zu einem religionsgleichen Glauben heran. Die Erlösung wartete im Osten, das Heilsversprechen war ein politisches und wurzelte in Russland: ex oriente lux. Weiterlesen