19.03.2020 / 20:22

Benjamin Leberts „Crazy“ aufgegabelt: ein solider Text; Herrndorf, Green, Plenzdorf usw. kann er aber nicht das Wasser reichen; zuweilen liest sich das Ganze wie der Bericht einer Klassenfahrt, der dann ganz unvermittelt umschlägt in eine Aneinanderreihung, großer, nein: größter, Fragen: Was ist Freundschaft? Was ist Literatur? Was ist der Staat? Was ist das Leben? Zuweilen auch unfreiwillig komisch: Etwa als die sechs Jungs aus dem Internat abhauen, mit dem Bus nach Rosenheim fahren und die nahe Ankunft so erzählt wird, als erreiche man London oder New York: „Ich schaue wieder aus dem Fenster. Langsam wird es heller. Die grellen Lichter von Rosenheim dringen zu uns herein.“ Hervorragend hingegen die Beschreibung des sadistischen Paukers, wie es ihn an jeder Schule gibt: die genüssliche Suche nach dem schwachen Opfer, das Sich-Weiden an dessen Nervosität, das Vergnügen am zwangsläufigen Scheitern des Schülers an der Tafel, die Genugtuung, Macht mit einer miesen Note ausüben zu können – und all das bietet der menschliche Totalausfall in Lehrergestalt auf, um die eigene Jämmerlichkeit zu übertünchen.

27.03.2020 / 21:23

Da ein Virus gerade freilegt, dass zu des Deutschen größten Ängsten offensichtlich zählt, beschmutzt und hilflos auf dem Klo festzusitzen, lohnt vielleicht einmal eine nähere Beschäftigung mit dem, in gewöhnlichen Zeiten so sträflich vernachlässigten, Toilettenpapier – genauer: damit, wie es beworben wird. Auf einer 8er Packung Zewa etwa ist zu lesen: „Sie werden diese 3 Lagen lieben. Kein Wunder, wer fühlt sich nicht besonders geborgen mit der umwerfenden Kombination aus zwei weichen Außenlagen und einer starken Innenlage? Po müsste man sein!“ Beachtenswert, wie Zwischenmenschliches in den Umgang mit Exkrementen Einzug hält. Geborgenheit und Liebe spendend, bietet sich das dreilagige Toilettenpapier als Ersatzfamilie an. „Kein Wunder“ also, dass der erste Gang des gemeinen Hamsters zum Regal mit Klopapier führt. Es sind einfach große Gefühle im Spiel; nicht mehr Partner oder Partnerin werden für umwerfend empfunden, sondern der samtene Stoff, mit dem sich der Hintern abgeputzt wird. Wer wünscht sich nicht solch einen Begleiter, der sich seiner Zartheit nicht schämt und doch, wenn es hart auf weich auf flüssig kommt, Stärke zu demonstrieren weiß. Wer kennt es nicht: Jeder Wurf eines benutzten Blatts Toilettenpapier ins Spülbecken trägt einem aufs Neue Trennungsschmerz ein; eigentlich müsste man es noch gebraucht aufbewahren. Und am Ende, so will es die Marketingsabteilung von Zewa, soll der Ausruf des sich geliebt und geborgen fühlenden Konsumenten stehen: Ein Arschloch will ich sein! Dagegen gilt: Ein Arschloch muss ich sein, um – wir bleiben im Thema – derartigen Dünnpfiff zu verfassen.

30.03.2020 / 18:08

Außergewöhnliche Zeiten haben ja immer auch einen demaskierenden Zug. In folgendem Fall wäre das aber wohl gar nicht mehr vonnöten gewesen: Die NRA (National Rifle Association) verklagt den Gouverneur von Kalifornien, weil dieser wegen des Coronavirus Waffenläden als nicht lebensnotwendige Geschäfte hat schließen lassen. Das sieht man erwartungsgemäß nicht so gern. Wer aber nun befürchtet die Damen und Herren von der Waffenlobby wollen den Nachschub an Knarren nicht versiegen lassen, um an den Läufen ihrer Colts und Uzis herumknabbern zu können, der sei beruhigt. Laut Klage gehe es allein darum, dass der gemeine Amerikaner gerade in Zeiten größerer Unsicherheit nicht ohne seine Waffe sein könne. Es wird also schlichtweg vorausgedacht: Sollte die Pandemie aus dem Ruder laufen und die Verarmten und Hungrigen vorstellig werden, will man auf bleierne Weise seine Verbundenheit demonstrieren können.

05.04.2020 / 17:24

Man kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus: Auf einem im Großen und Ganzen doch bewährten System zu beruhen, attestiert kicker-Chefreporter Karlheinz Wild dem Profifußball. Dieses gelte es in Corona-Zeiten nun mit Geisterspielen zu retten. Dass gerade die rasche Notwendigkeit zur Rettung die Bewährung infrage stellt, dass also das Virus die Probe darstellt, entgeht dem Kommentar – und damit auch, dass diese Probe krachend nicht bestanden wird. Dieser Tage zeigt sich, dass sich der Fußball in nahezu totale Abhängigkeit von TV-Geldern begeben hat. Versiegt diese Quelle, kann manch ein Klub augenscheinlich kaum ein paar Wochen überleben. Allein deshalb wird sich – mit dem vorgeschobenen Argument, man könne doch den Menschen in diesen schlimmen Zeiten ein wenig Ablenkung liefern – für Spiele ohne Zuschauer ausgesprochen. Auch Wild fährt diese Schiene – wörtlich: Die Zuschauer „müssen [!] (…) per TV einigermaßen umfassend versorgt werden“. Man setze das „Grund“ vor die „Versorgung“ und schon kommt man beim Selbstbild an, das der Profisport samt medialem Anhang von sich hat: Zum Essentiellen des Lebens gehören demnach Essen, Gesundheit, Obdach – und natürlich das runde Leder. Der Umstand, dass sich diese Wortwahl mit der Einschätzung Wilds beißt, der Fußball habe sich „geerdet“ in der Krise gezeigt, reiht sich ein in die Phalanx der blinden Flecke des Journalisten. Natürlich, es hat Gehaltsverzichte gegeben, doch sollte man sich davor hüten, diese mit einer frisch entdeckten Zuneigung für den Brezelverkäufer im Stadion, den Sicherheitsordner oder den Platzwart in Verbindung zu bringen. Nur um die Dimensionen klar zu machen (die selbstredend nicht nur für den Fußball gelten): Würden die Topspieler auf die Hälfte ihres Gehalts verzichten – und in diesen Sphären bewegt sich der Verzicht längst nicht -, verdienten sie nicht mehr an einem, sondern ’nur noch‘ an zwei Tagen so viel wie der gemeine Mann oder die gemeine Frau, die im oder rund ums Stadion arbeitet, im gesamten Jahr. Es ist vollkommen irre, in diesem Zusammenhang von Erdung und Solidarität zu sprechen. (In demselben Kontext: Ilkay Gündogan, Spieler von Manchester City, hat sich zum Gehaltsverzicht geäußert. Für ihn persönlich wäre es okay, er könne aber auch Kollegen verstehen, die sich dem verweigern würden mit der Begründung, hart für das Geld zu arbeiten. Oft wird gesagt, das Leben stehe derzeit still. Beruhigend, dass zumindest die Ignoranz noch so beweglich ist, dass sie es über den Ärmelkanal schafft.) Ähnlich irre ist es, moralinsauer über die ‚Scheiß-Millionäre‘ zu schimpfen (worum auch dieser Text nicht ganz herumgekommen ist). Verdienst wie beschränkter Horizont sind lediglich Symptome der Strukturen, in denen man sich bewegt – das gilt für Profifußballer wie Chefreporter gleichermaßen.

13.04.2020 / 18:34

England in den 60er Jahren, eine Heranwachsende in Oxfords upper class, die Mutter Philosophiedozentin, die an ihrem Schopenhauer schwer trägt, der Vater erfolgreicher Unternehmer, das nächste Geschäft stets im Blick. Zuneigung für das Kind wird selten demonstriert, körperliche Nähe existiert nicht. Zeitweise besorgt dies eine schottische Nanny, feist und mütterlich, bis sie wegen „some unnamed disgrace“ (Ian McEwan, On Chesil Beach, London 2007, S. 141) die Familie verlassen muss. Das Zentralproblem des Romans ist eingekapselt in diesen zwei Worten: Was nicht konform, gesellschaftlich unerwünscht ist, hat keine Sprache – und ist so zugleich auch aus der Wirklichkeit ausgeschlossen. Dieselbe Sprachlosigkeit erstreckt sich auf die Sexualität der beiden Hauptfiguren, was in eine verhängnisvolle Hochzeitsnacht mündet.

24.04.2020 / 12:43

Boardwalk Empire, fünfte Staffel, erste Folge: Der Chef eines Unternehmens inmitten der Wirtschaftskrise zu Beginn der 30er Jahre: „’Who knows what I did last night? Anybody? Miss Rohan did I mention anything to you?‘ [Miss Rohan:] ‚I believe you intended to see a film, Mr. Bennett.‘ ‚That’s exactly right. I went to a film (…) with my beloved spouse, Laura, the mother of my children because life is not just about dollars and cents, is it? ‚No, Sir!‘ ‚Saw the front page (…), the cartoon (…): Mickey Mouse, castaway on a desert island (…), gorilla, dancing seals, baby tiger; at one point Mickey finds a piano…not important! What is important: He doesn’t give up! He makes the best of the situation. He stays cheerful. And in the end – what happens in the end? [He] sails away on a turtle. You see, friends, don’t let the naysayers get you down. The country is strong, the market is strong, Connors & Gould is strong. It is a grand time to make some money.'“ Mr. Bennett holt einen Revolver aus seiner Hosentasche, die um ihn versammelten Mitarbeiter zucken zusammen, raunen. „’Oh no, no – everything is gonna work out fine!'“ Im nächsten Moment schießt er sich in den Kopf. Objektiver Gehalt und Bodenlosigkeit der Ideologie sind sich hier ganz nahe. Das Davonsegeln von allen Schwierigkeiten, mit der Welt in Einklang, wie es Mickey Mouse praktiziert, wäre möglich – das ist der, gerade aufgrund seines utopischen Gehalts, objektive Anteil der Ideologie. Zugleich ist er Gradmesser für die bestehenden Verhältnisse, und entlarvt derart die Erzählung von der Rettung aus kapitalistisch bedingten Problemen durch den Kapitalismus als falsches Bewusstsein.

30.05.2020 / 19:54

Wanderer gegen solche Not / Wolltest du dich sträuben? / Wirbelwind und trockener Kot / Lass sie drehen und stäuben

Nur manchmal, da geht das leider nicht, da ist Gleichmut vollkommen fehl am Platz.