Bei der Beantwortung der Frage, was die Gesellschaft zusammenhalten sollte, wird gerne von demokratischen oder religiösen Idealen gesprochen (Nächstenliebe, Menschenwürde etc.). In seinem Roman „Der goldene Handschuh“ beschreibt Heinz Strunk einen gesellschaftlichen Kitt, der weit entfernt ist von solchen positiven Leitbildern. Es sind Herrschaft, Macht und das Ausüben von Gewalt zwischen den Geschlechtern, die hier die unterschiedlichen sozialen Milieus und Schichten miteinander verbinden – dies in einer dreifachen Abstufung.
Stufe 1
Auf der ersten – der harmlosesten – Stufe liegt das gebrochene Herz des behinderten Reeder-Sprösslings. Wilhelm Heinrich (der Dritte = WH3) ist durch einen Gendefekt (Noonan-Syndrom) mit einem vollkommen deformierten Kopf und gerade noch durchschnittlicher Intelligenz geschlagen, wozu sich eine dauerhafte Geilheit ob der „verdorbenen Miezen an seiner Schule“ (Strunk, Heinz, Der goldene Handschuh, 3. Aufl., Reinbek 2016, S. 28) gesellt. Eine dieser ‚Miezen‘ sieht, wie WH3 den Hund des Schulhausmeisters vor Sommerhitze und Fliegenschwärmen rettet. Es regt sich Mitleid in ihr, was dann auch fast alles an Gefühlen ist, die sie für ihn aufbringen kann. Während eines Jahres schwankt er zwischen der Hoffnung auf mehr als eine lose Bekanntschaft und dem Wissen darum, dass jemand wie er bei einer wie ihr nie zum Zug kommen wird. Am Ende bestätigt sich das vermeintliche Naturgesetz, das der Erzähler in folgender Sentenz verpackt: „Die meisten Männer geben alles und bekommen nichts, einige wenige geben nichts und bekommen alles, so ist das nämlich, Gesetz“ (S. 240).
In einem verzweifelten Versuch der Angebeteten mit einer dürftig antrainierten Weltläufigkeit in Gestalt von Kenntnissen über das Hamburger Nachtleben zu imponieren, landet WH3 mit ihr schließlich im Goldenen Handschuh – einer Kneipe, die kein Ort geselligen Beisammenseins, sondern gesellschaftliches Restebecken ist. Hafenarbeiter, Luden, Obdachlose, Prostituierte treffen hier aufeinander; manch einer zecht für zwölf, sechzehn, vierundzwanzig Stunden, immer wieder unterbrochen von kurzzeitigen Delirien; einmal hing jemand für zwei Tage auf seinem Schemel – der war längst tot, niemand hats bemerkt. Im Kellerklosett dieser Kaschemme also wird WH3 von einer der heruntergekommenen Gestalten angepisst, die für sein Imponiergehabe eigentlich als Kulisse dienen sollten. Während man als Leser noch unentschieden ist, ob dies nun Mitleid verdient oder doch eine gerechte Strafe darstellt, wringt WH3 den Urin aus seiner Hose und die Helena der Vorstadt verlässt alleine den Handschuh – dies mit äußerst klaren Gedanken, die hinsichtlich der Machtfrage zwischen den Geschlechtern keine Zweifel offen lassen: „Wie in aller Welt kommt er darauf, dass er eine Chance bei ihr haben könnte? Lächerlich. Es ist auf Erden wirklich nichts Alberneres erfunden worden als seine Liebe zu ihr“ (S. 242). Die Gewalt wird hier noch auf der Ebene eines Allerweltsgeschehens ausgeübt; von dort ist es ein großer Sprung bis zur zweiten Stufe.
Stufe 2
In einer Zeit, in der jedermann das Wort „Gleichberechtigung“ im Mund führt, stellt Strunks Roman die Frage, ob das Verhältnis zwischen den Geschlechtern überhaupt harmonisiert werden kann. Im Roman wird zwar vom Hamburg der 1970er Jahre erzählt – einer Zeit, in der eine Hierarchie zwischen Mann und Frau noch offensiv vertreten wurde -, doch sind die von Strunk skizzierten Machtmittel auch gegenwärtig noch massenhaft in Gebrauch. Tatsächlich sind die eingesetzten Waffen im Kampf um die Vorherrschaft Jahrhunderte alt und dennoch kein bisschen stumpf: Die Frau setzt auf ihren Körper, der Mann auf Geld und Rohheit. So auch der Anwalt Karl von Lützow – eine Figur, die aus den Romanen Michel Houellebecqs entsprungen sein könnte. Mit seinen sexuellen Deviationen und den trostlosen Erfahrungen eines mittelalten Mannes, der sich unter das junge Partyvolk mischt, mutet Lützow wie eine Mischung aus Bruno Clément („Elementarteilchen“) und Daniel 1 („Die Möglichkeit einer Insel“) an. Sicherlich, bei Strunk fehlt der philosophische Überbau, der bei Houellebecq reichlich Platz einnimmt. Doch die Szenen der Frustration sind identisch: Karl von Lützow prüft seinen Marktwert in Nachtclubs auf der Reeperbahn, nur um festzustellen, dass dieser gen Null tendiert. Abzüglich des Kontostandes und der gesellschaftlichen Position bleibt nur der alte Sack mit seinen gierigen Blicken: „Die Mädchen bewegen sich aufreizend, doch er [von Lützow] ist nicht gemeint. Er versucht Blickkontakt mit einer aufzunehmen, sie mustert ihn, als wäre er ein welker Salatkopf“ (S. 228). Bei Houellebecq wird die Trostlosigkeit, die den bedauernswerten Alten umweht, auf die Spitze getrieben: Die Party ist privat, findet in einer Wohnung statt, und artet schließlich zu einer Orgie aus: Sämtliche Körperöffnungen scheinen den Feiernden frei zur Verfügung zu stehen, nur der alte Mann, dessen junge Begleitung von der Ungezwungenheit reichlich Gebrauch macht, bleibt außen vor. Die Botschaft ist eindeutig: So besoffen und zugedröhnt mit Koks und bunten Pillchen können junge Frauen gar nicht sein, dass sie sich zum Vergnügen mit ‚verwelktem Salat’ einlassen.
So muss die Beziehung zum anderen Geschlecht als Geschäft angebahnt werden, wobei Lützow insofern begünstigt ist, als er irgendwie deformierte, unebene Frauen den makellosen vorzieht – das macht die Sache einfacher. Gleich mehrere Damen dieser Sorte hat er an der langen Leine, die er je nach Bedarf zu sich bestellt – wobei sich natürlich all diese Frauen gegen ihre eigene Verdinglichung („Sorte“, „Bestellung“) verwahren würden. Das Geschäftliche darf nicht benannt werden, obwohl es das einzig Wahre an den Beziehungen ist: Sie stellt sich als Sexualobjekt zur Verfügung, an dem sich Lützow abarbeiten kann, und bekommt im Gegenzug in Aussicht gestellt, irgendwann einmal bei Herrn von und zu einziehen zu dürfen (wozu er es natürlich nie kommen lassen wird) – ein ungleicher Deal, auf den sich dennoch genug Frauen einlassen.
Frauke etwa, die beim Grünflächenamt arbeitet und die Lützow mit ihrem „unsägliche[n] Geschwafel“ (S. 120) über ihre Arbeitskollegen derart auf die Nerven geht, dass er ihr unvermittelt die Kleider vom Leib reißt, sie nach Herzenslust verprügelt und schließlich entblößt in eine Zimmerecke abkommandiert, wo sie bis 300 zählen muss. Das alles nur, um am Ende zu erkennen, dass ihn die ehrliche Angst in ihren Augen doch nicht so geil gemacht hat, wie er sich das vorher ausgemalt hatte. Was bleibt ist Lakonie („Aber das kann man schließlich erst wissen, wenn man es ausprobiert hat.“ – S. 125), die die Frauenverachtung noch unterstreicht, sowie das Bemühen, Frauke von einem Anruf bei der Polizei abzubringen. Mit dieser Sorge vor einem Eingreifen von außen steht Lützow nicht alleine da; er teilt sie mit jemandem, bei dem die Eskalation der Machtausübung die Endstufe erreicht hat.
Stufe 3
Bei Fritz Honka, der historischen Figur in Strunks Roman, flammt die Angst vor der Staatsgewalt allerdings nur einmal kurz auf – als er sich im Vollsuff, der bei ihm (ähnlich wie bei Lützow) ein Dauerzustand ist, während seiner Schicht als Nachtwächter an einer Putzfrau vergehen will. Die Frau entkommt, kündigt fristlos – nichts passiert. Ansonsten ist jedes Regulativ – sei es die Polizei oder auch die Gesellschaft mit ihren Normen und Werten – Honkas Welt so fern wie die Erde dem Mond. Zumeist greift er auf Frauen zurück, die außer ihrem abgewirtschafteten, von Abhängigkeiten zerfressenen Körper nichts mehr haben – keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld, keine Familie, keine Freunde, ja oftmals nicht einmal mehr Zähne im Mund. Mitunter werden diese Menschen als die „Verlorenen“ der Gesellschaft bezeichnet – ganz so, als würde tatsächlich noch jemand nach ihnen suchen. „Vergessene“ trifft es besser, und einer der wenigen Orte, wo sie sich anderen Menschen noch in Erinnerung rufen können, sind Kneipen wie der Goldene Handschuh. Dort stellen sie sich in eine Ecke und warten, dass Gestalten wie Fritz Honka ihnen einen ausgeben, sie vielleicht mit zu sich in die Wohnung nehmen – wenigstens für die Nacht, wenn möglich für länger. Für Logis und Alkohol wird die ständige sexuelle Verfügbarkeit in Rechnung gestellt.

Stillschweigende Deals dieser Art geht Honka öfter ein. Hierbei ist der Sex für ihn so eng mit Herrschaft und Macht, dem Verfügen über ein willenloses Ding, verknüpft, dass es nur als eine Frage der Zeit erscheint, bis die Gewalt in die Vernichtung der Frau mündet. Zunächst jedoch gibt Honka der Abhängigkeit eine offizielle Note. Er lässt die Frauen einen selbst aufgesetzten Schrieb unterzeichnen, mit dem sie ihren Willen an ihn abtreten: „Herr Honka weiß viel besser als ich selber, was gut für mich ist, und deshalb erkläre ich schriftlich, dass ich mit allem einverstanden sein werde, was er mit mir macht. Außerdem will ich von jetzt an keine eigene Meinung mehr haben und äußern“ (S. 87). Es kommen hier Machtphantasien aufs Papier, die sich im Grundsatz von denen Karl von Lützows nicht unterscheiden: Beide wollen sie über willenlose Frauen verfügen, sie versklaven.
Allein das Ambiente ist bei Honka ein so ganz anderes: Anstatt eines großen Bungalows in bester Lage (inklusive Gärtner), nennt er zwei dichtgemüllte Zimmer sein Zuhause. Dreck schwebt durch die Luft; das Mobiliar ist spärlich und kaputt; in den Teppich haben sich Urin, Alkohol und Erbrochenes eingefressen – doch seine infernalische Note bekommt der Gestank durch die Leichenteile, die in einer Abseite der Wohnung verwesen. Zur Linderung stellt Honka eine Armada von Duftbäumchen auf; ‚seinen Damen’ erklärt er, der Gestank komme vom Kochen der Griechen aus dem Erdgeschoss. Das genügt als Erläuterung – weitere Nachfragen könnten schließlich den nächsten Schnaps gefährden. Wenn sich nämlich ein eigener Wille regt oder die Dinge nicht so laufen, wie Honka sich das vorstellt, kann die Lage sehr schnell eskalieren – und sie eskaliert häufig: Anna verliert im Delirium die Kontrolle über ihren Darm und scheißt in sein Bett, Frida will ihm Geld stehlen und bei Ruth meint er, sich die Syphilis geholt zu haben – er bringt sie alle um, entstellt und zerstückelt die Leichen, verstaut einige Teile in der Abseite, andere bringt er auf ein verlassenes Fabrikgelände.
Zusammenführung
Strunks Roman möchte nicht erklären, warum Honka bei den Vergessenen gelandet ist, warum er einen Alkoholexzess an den nächsten reiht, schließlich zum Mörder wird und sich mit verwesenden Leichen die Wohnung teilt. Auch wenn die Kindheit gestreift, seine Innensicht vom Erzähler vereinzelt über die erlebte Rede mitgeteilt wird, geht es nicht um ein Psychogramm. Die Erzählung in die erste Person zu setzen, damit maximale Introspektion zu liefern, wäre ohnehin unmöglich gewesen: Der ständige Dämmerzustand im Suff hätte Gestammel mit riesigen Lücken, nicht jedoch eine kohärente Erzählung entstehen lassen. So ist der Roman zuvorderst eine Beschreibung der Verwahrlosung – nicht nur innerhalb des Trinker- und Prostituiertenmilieus auf St. Pauli, sondern auch innerhalb der schicken Villen in den Elbvororten. Der Text zeugt davon, dass unser gesellschaftliches Radar nicht fein genug eingestellt ist, um den Morast auf den Schirm zu bringen, in dem Honka sein Leben verbringt. Genauso wenig ist es allerdings in der Lage, die Verwesung von Moral, Anstand und Humanität in den luftigen Sphären der Bessergestellten kenntlich zu machen. Diese Aufgabe des Sichtbarmachens meistert Strunk eindrucksvoll, er schleudert dem Leser ein eindringliches ‚Das gibt es auch!‘ entgegen.
Und über diesen Umweg des Beschreibens liefert der Roman dann doch Erklärungen: In einem sozialen Umfeld, in dem die Menschen sich das Gehirn wegsaufen, in dem jede Beziehung vom Egoismus dominiert wird, in dem die Hemmschwelle für Aggressionen kaum vorhanden ist, folglich auch nicht übertreten werden muss, um jemanden zu Brei zu schlagen, erscheint es fast schon zwangsläufig, dass irgendwann einmal einer dabei ist, bei dem alles zusammenkommt und der schließlich die Verrohung auf die Spitze treibt – ob es sich hierbei dann um einen Anzugträger oder einen Hilfsarbeiter handelt, ist nicht weiter von Belang. So ist es auch nur konsequent, dass Strunk die drei Erzählstränge am Ende im Goldenen Handschuh zusammenlaufen lässt – jenem Ort, an dem Macht über andere – neben der harten Mark für den unerträglichen Fusel – die einzige Währung ist, die etwas zählt. Hier liegen sie schließlich nebeneinander, das gebrochene Herz von WH3, die Frustration Karl von Lützows und die elende Existenz Fritz Honkas – alle drei sind sie (in Abstufungen) Opfer und Täter zugleich; alle drei üben sie Macht aus und sind ihr zugleich ausgesetzt. Die Frage, ob dieser gesellschaftliche Kitt, der Oben und Unten, Arm und Reich zusammenleimt, nun der Natur des Menschen geschuldet oder doch Produkt von Sozialisation und Gesellschaft ist, bleibt in Strunks Roman unbeantwortet.
Die Trostlosigkeit und das Unfassbare werden ausgestellt, nicht ergründet. Sie besiedeln nahezu das gesamte Buch, lassen lediglich Platz für eine Figur, die so etwas wie Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Elend verbreitet: Gisela von der Heilsarmee; sie sieht ab und an im Handschuh vorbei. Da ihre Sprüche über Jesus und den Herrgott allerdings kaum gehaltvoller sind als die Weisheiten des besoffenen Stammpersonals (dabei eine ähnlich komische Wirkung entfalten), erscheint ihr Erfolg von Beginn an zweifelhaft. Mitunter gelingt es ihr, jemanden aus der Kneipe mitzunehmen. Lange fern bleibt der Vorhölle allerdings kaum jemand, der sich einmal in ihr eingerichtet hat. Die ausdauernden Appelle an die Vergessenen, eine Kehrtwende einzulegen, sind gerade deshalb bemerkenswert, weil Scheitern hierbei ein Dauerzustand ist. Letztlich gibt es in Strunks Roman keine Hoffnung auf Besserung, auch nicht durch einen imaginierten Weltenlenker. Auf den beruft sich auch eines von Honkas Opfern, während er mit einer kalten Bockwurst in ihrer Vagina herumstochert; ja sogar der Serienmörder selber nuschelt, nachdem er die Leichen in Stücke gehackt hat, etwas von Gott und Christus in sich hinein. Hier kann man sich eigentlich nur noch an den Erzähler halten: „Ausgerechnet der Liebe Gott, als ob der hier noch mitmischen würde” (S. 50).