„Ich glaube, die Liebe zu einem Land, auch der Patriotismus, ist unsere Antwort auf die Verzweiflung, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein“ (Bernward Vesper, Die Reise. Romanessay, Reinbek 1989, S. 34-35). Die Menschen verfallen der Vaterlandsliebe aus Verzweiflung über die Geburtslotterie und ihre Konsequenzen – gerne möchten sie jemand anderes sein, sich neu erfinden, einen Anfang ohne Vergangenheit setzen, doch der Herkunft ist nicht zu entkommen. Und weil dies so ist, verfallen sie irgendwann darauf, sich das eigene Schicksal zumindest mit wehenden Fahnen und Deutschlandlied zu versüßen.

Was der Patriotismus einem lässt, ist die ständige Selbstbeschäftigung: Sich selber ein König sein – und sei es in der Sozialwohnung, mit Arbeitslosengeld und Essen von der Tafel, umgeben von anderen ‚Königen‘, als Teil eines Bollwerks, früher gegen den Franzmann und den Tommy, heute gegen den Muselmann. Der Patriotismus schafft die Umwandlung der Verzweiflung über die eigene Not in einen positiven Wert – den Stolz auf das Vaterland, dessen glühendste Verfechter zumeist kein substanzieller Teil von ihm sind. Die Forderung, das eigene Land zu lieben, war schon immer an die sozial Schwachen gerichtet, um sie mit ihrem eigenen Schicksal zu versöhnen: ‚Bis an das Ende eurer Tage werdet ihr in Armut leben müssen, doch den Ausländer zum Abreagieren, den bekommt ihr von uns geschenkt – gratis, ganz umsonst.‘ Wirtschaftspolitische Liberalität und das Schüren von Nationalismus (als Trostpflaster für die industrielle Reservearmee) gehen seit jeher gerne Hand in Hand. Irgendwie muss schließlich die Unzufriedenheit über eine starre, ungerechte Gesellschaft, in der es kaum soziale Durchlässigkeit gibt, kanalisiert werden. Wer wegen seines Loses resigniert, dem bleibt noch die Verherrlichung der eigenen Herkunft, was so viel einfacher ist als gegen den Determinismus vorzugehen, gegen die Tatsache, dass die Geburt noch zu häufig den Rest des Lebens bestimmt. Und während in den Hochhaussiedlungen die Deutschlandfahnen blühen, verkümmert die Empathie dramatisch. Es muss den Patrioten nicht einmal die Fähigkeit abgesprochen werden, sich in den Fremden einfühlen zu können; es fehlen ihnen schlicht die Ressourcen: Wer nur auf sich selber schaut, dem bleibt weder die Energie noch die Zeit, die Lage seines Gegenübers zu reflektieren.

Abseits der Abgehängten kann sich der Patriotismus noch in einer verschärften Erscheinungsform zeigen. Er gelangt dann in die sogenannte Mitte der Gesellschaft; in der Geschichte hat er dies immer wieder geschafft und schafft es momentan wieder. Er ist gegenwärtig vielleicht noch nicht salon-, aber immerhin doch schon reihenhausfähig. Nicht als Stütze für jene, die ansonsten nichts haben, wird der Patriotismus hier benötigt, sondern als Schutzschild für diejenigen, die das Wenige, was sie besitzen, nicht verlieren möchten. Dies nicht nur in Deutschland – auch der Blick auf die Nachbarländer zeigt, dass der ‚besorgte Bürger‘ (der den halben Weg zum verzweifelten Patrioten bereits zurückgelegt hat) längst zum Massenphänomen geworden ist. Die neuen nationalen Bewegungen innerhalb Europas belegen jedoch nicht, dass die vermeintlich Gutsituierten sich nun plötzlich verführbar zeigen und deshalb tumbe Parolen mitgrölen. Sie zeigen vielmehr, dass man mittlerweile – sowohl in Deutschland als auch im Rest Europas – gut ausgebildet sein kann, auch einen Job haben kann und dennoch nicht über die Runden kommt. Das Prekariat dringt in die Mitte der Gesellschaft vor und bringt die Deutschtümelei gleich mit.

Von vielen Gegenwartsdiagnostikern war in der jüngeren Vergangenheit zu hören, es habe einen Rechtsruck in Deutschland gegeben. Es sei an dieser Stelle eine Vermutung (um mehr kann es hier nicht gehen) in den Raum gestellt, die – sofern sie denn korrekt sein sollte – auf einen noch weitaus dramatischeren Zustand der Gesellschaft schließen ließe: Die Menschen mussten gar nicht erst nach rechts rücken, weil sie schon immer dort waren; früher wurden sie jedoch von einer Union ante Angie domestiziert, in der es noch ein patriotisch-nationales Grundrauschen gab. Mit Merkel schließlich wurde die rechte Flanke politisch frei, nur die Menschen bewegten sich nicht mit der Kanzlerin in die vielbeschworene Mitte; bei Wahlen konnten die Kreuzchen von den Konservativen auch ganz gut aus Gewohnheit gesetzt werden – nur richtig repräsentiert fühlte man sich dann augenscheinlich doch nicht. In dieses Vakuum stieß nun die AfD. Sie besetzte nicht nur die verwaisten Positionen, sondern überholte die Union rechtsaußen im Eiltempo. Auf die Bändigungsarbeit, mit der CDU und CSU früher auch radikale Stimmen im demokratischen Rahmen hielten, verzichten Frauke Petry und Konsorten ganz bewusst, schließlich nährt sich die Partei vor allem von der Enthemmung der öffentlichen Debatte. In dieser können die etablierten Parteien immer nur zweiter Sieger sein, weil sie im rhetorischen Wettrüsten um Schlagbäume, Obergrenzen und Schießbefehl zum einen immerzu dem Original hinterherhecheln, zum anderen durch ihre Orientierung am Rechtsstaat eingeengt sind.

Der Schaden, der von der AfD angerichtet wird, geht an die Substanz des demokratischen Konsenses. Die Partei hat eine Stimmung mitzuverantworten, in der mehrere hundert Angriffe auf Asylanten- und Flüchtlingsunterkünfte geschehen können, ohne dass größeres Entsetzen im Land spürbar wäre. Auch stört sich in der AfD niemand an der Assoziierung mit fremdenfeindlichen Organisationen wie Pegida; im Westen Deutschlands knüpfen führende Parteimitglieder seit geraumer Zeit eifrig Kontakte zu Neonazis. All diese Entwicklungen zeigen, dass es in Deutschland – anders als etwa in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten – offensichtlich keinen entspannten Patriotismus geben kann. Den Scharen an Menschen, die nicht fest im rechtsradikalen Milieu verankert sind und dennoch (auch bei den Landtagswahlen am gestrigen Sonntag) die AfD unterstützen, deutlich zu machen, welcher Wind in dieser Partei weht – dies muss in naher Zukunft die dringlichste Aufgabe der etablierten Parteien sein. Erfolge werden sich hierbei nur einstellen, wenn die Differenzierung zwischen rechtsradikalen und national-konservativen Unterstützern gelingt.

Klar ist allerdings bereits heute, dass der entstandene Schaden nicht mehr nur durch eine Entzauberung von AfD und Pegida zu beheben sein wird. Hinsichtlich der geäußerten Gedanken und auch der Wortwahl ist ein Bodensatz in Sphären aufgewirbelt worden, aus denen nur Einschneidendes ihn wieder herabsinken lassen wird. Es ist zu hoffen, dass es sich bei diesem Ereignis, das den Umschwung herbeiführen wird, nicht um Tote in einer brennenden Flüchtlingsunterkunft handeln muss. Doch auch dann – in und nach der Katastrophe – würde sich zeigen, wie eng die Herkunft in ihrer Unausweichlichkeit mit dem Patriotismus verknüpft ist: Niemand möchte dann zu den geistigen Brandstiftern gezählt werden; lieber wird lamentiert über das üble Los, in die falsche Zeit hineingeboren worden zu sein – in der Rückschau sind immer die Umstände verantwortlich. Der Patriotismus ist dann nicht mehr Antwort auf, sondern Rechtfertigung für die Verzweiflung, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein. Die Verzweiflung tritt nun wieder offen zutage, nicht als Symptom der Reue über den Zustand, den man mitzuverantworten hat, sondern als Selbstmitleid. Das Stadium der verhinderten Patrioten, die die Zerrüttung, die sie herbeigeführt haben, ignorieren, stattdessen lieber sich selber bedauern, ist fast noch unerträglicher als jenes ihrer Blütezeit.

Erst wenn der Patriotismus von der Verzweiflung vollkommen abgesondert ist, wenn nicht mehr aufgrund der Ausweglosigkeit des eigenen Schicksals sich an die Nationalflagge geklammert wird, wenn auf das Einstehen für das eigene Land nicht unmittelbar die Worte „Volksverräter“ und „Schießbefehl“ folgen – erst dann sind die Voraussetzungen gegeben für einen Patriotismus, der den demokratischen Rechtsstaat nicht zum Bersten bringt. Bis es so weit ist, wird es noch dauern – insbesondere in Deutschland – und sowohl die AfD als auch Pegida werden ganz gewiss kein Teil dieses gemäßigten Patriotismus sein. Im Gegenteil, sie werden mit allen Mitteln versuchen, ihn zu verhindern.

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