„Zurück in Bismuna“, Dokumentarfilm von Uli Kick: Christian geht in Berlin auf den Strich, nächstes Geld nächster Schuss, fünf-, sechsmal am Tag – der Rhythmus eines Heroinabhängigen. Ende der 90er Jahre: Christian ist in Bismuna, im Dschungel Nicaraguas, ein deutsches Sozialprojekt für in der Heimat aufgegebene Jugendliche. Nichts als Arbeit, Holz hacken, Wasser schleppen, alles auf Ursprung, alles in Ordnung so weit – der Rhythmus eines Indios, zumindest näherungsweise. Zurück in Deutschland: aus dem Flieger in den Zug, so war der Plan; der Zug ist weg, Zeit ist da, Geld auch: nächstes Geld nächster Schuss, so schnell geht das. Freunde hast du nicht, in dieser Szene denkt jeder nur an sich, sagt Christian.

Was hält ein Körper aus? Wie lange geht die Leber mit? Fünfzehn, zwanzig Bier – am Tag? Wo hinstechen, wenn keine Vene mehr zu finden ist? In die Leiste, in den Hals, in den Fuß; auf zur nächsten Therapie, nicht mehr in den Dschungel, aber doch fern der Großstadt, am Meer oder auf dem Land. Meine Traumata sollte ich aufarbeiten, das war zu krass, was die da zu Tage gefördert haben, sagt Christian. Strich war gestern, für den nächsten Schuss sorgt ein spendabler Freier; wenige Monate später: Gefängnis, danach: nächstes Geld nächster Schuss, danach: auf zur nächsten Therapie – das Leben eines Heroinabhängigen. Einmal noch nach Nicaragua, das wäre mein Traum…ansonsten ganz normal: Familie, Freunde, Arbeit, sagt Christian.

Und du? Wie findest Du den Typen da auf dem Bildschirm, ganz in Farbe? Braune Zähne, Klamotten siffig, aber akkurat – mit ein bisschen Phantasie: Typ „verlotterter Student“; Haare mittellang, manchmal fettig, manchmal nicht, alles in allem nicht so, wie man sich einen Junkie vorstellt, nur die Augen: gläsern und ganz weit weg. Keine dreißig Jahre alt und richtet sich selber, und wenn er so redet – kurz nach dem Schuss – das Gefühl: richtet sich selber und weiß darum. Wer ist schuld? Die Droge? Christians Kindheit? Die Großstadt?

Wo verläuft die Grenze? Ein bisschen saufen, gerne auch ein bisschen mehr, kiffen, vielleicht auch koksen – das alles gilt doch mittlerweile bereits in den gutbürgerlichen Kreisen als Ausweis dafür, dass man einmal gelebt hat, intensiv gelebt hat; und wenn nicht in diesen Kreisen, dann doch zumindest unter jenen Menschen, die in der Romantik ihrer alternativ verlebten Vergangenheit regelmäßig tagträumen; dies natürlich längst im Reihenhaus, bei einem Glas Rotwein, nach einem anstrengenden Tag im Büro; auch hier: betäubtes Leben, nur gesünder, mit weit mehr Zukunft. Wie viele Schritte hätte es bei diesen Nostalgikern einst gebraucht, um zu enden wie Christian, der zurück nach Bismuna möchte, halbtot ist, aber zumindest das noch möchte? Wie viele Christians gibt es? In Deutschland? In Europa? Auf der Welt?

Am eindringlichsten: wie er da sitzt, auf einer verdreckten öffentlichen Toilette, das Heroin aufkocht, eine Vene sucht, sich den Schuss in die Leiste setzt, Minuten der Erleichterung – im Gesicht, vor allem im Gesicht, die Muskulatur entspannt sich, die Züge werden weich – und dann, ziemlich plötzlich: vorbei! Was bleibt? Der Gedanke an den nächsten Schuss, nie durchatmen, nie Pause. Abhängigkeit sprengt den Achtstundentag. Wer ist schuld?

Vielleicht diejenigen, die heute als Kultur inhaliert, als Idole verehrt werden, bei denen die Drogenvergangenheit untrennbar mit der Legende verwoben ist? Zwischen Warnung und Verherrlichung schwankend: John Lennon, der vom Cold Turkey singt? Die Stones? Janis Joplin? Kurt Cobain? Amy Winehouse? Wo ist der Unterschied – zu Christian? Es hat wohl sehr viel mit den Millionen auf dem Konto zu tun, für die sich alles kaufen lässt. John Lennon musste sich nie in schäbigen Pornokabinen in den Arsch ficken lassen, deshalb taugt er wohl zur Legende; solche Dinge möchte keiner hören; hören wollen die Menschen, wie es sich anfühlt, wenn man über die Grenze geht: die Bilder, die Spiritualität, die Kreativität. Der eigene Trip lässt sich hervorragend versilbern, über Musik und Bücher. Die eigene Entgrenzung kann verkauft werden und taugt zugleich einer ganzen Generation als Nostalgie-Anker. Prostitution auch hier, ans Kapital, das für die Entblößung fürstlich entlohnt; die Extreme werden gefeiert, solange sie steril bleiben, ihre Schattenseiten unsichtbar sind; und alle kriegen, was sie wollen, nur Christian, der kann sich davon nichts kaufen; keine Millionen für zwanzig Ärzte, nur vierzig Euro für den nächsten Schuss. Dies ist die Kluft, die sich auftut, wenn man drogenabhängig und dummerweise auch unmusikalisch ist. Aber wer ist nun eigentlich Schuld?

Weist nicht der Ort von Christians Therapie aus Kindheitstagen auf eine Antwort? Bismuna, Nicaragua, eine kleine Siedlung von Miskito-Indianern, umgeben von Urwald und Meer; keine Infrastruktur, keine Stadt, keine Ablenkung, kein Entrinnen. Ist nicht dieser Ort weniger Ausdruck von Hoffnung auf eine drogenfreie Zukunft als vielmehr ein Indiz für Flucht, Resignation und Kapitulation? Kapitulation vor deutscher, europäischer, vielleicht längst schon globaler Wirklichkeit? Derart verstanden lautet die Botschaft des Projekts: nicht mehr Betreuung, nicht mehr Sozialarbeiter, nicht mehr Therapieangebote und auch keine strengeren Gesetze werden benötigt, sondern eine neue Gesellschaftsordnung, eine neue Welt. Eine Welt, die das Prädikat „neu“ allerdings nicht verdient, denn so wie es in Bismuna angelegt ist, ist es eine alte Welt.

Es ist die Rückkehr in einen archaischen Zustand, der den Europäer verführt von Unschuld und Friedfertigkeit zu träumen. Imaginiert wird das Paradies, am besten jenes vor dem Sündenfall, mit ehrlicher Arbeit und einem harmonischen Zusammenleben. Ein derartiger Blick verfehlt nicht nur die Realität in der Heimat der Jugendlichen, sondern auch jene der Indios. Wer sich in ihrer Gemeinschaft als unfunktional erweist, sich nicht einbringt, wird vermutlich ausgestoßen. Der Geduldsfaden dürfte hierbei weitaus dünner sein als der europäischer Sozialarbeiter.

So ist die Flucht in die Vergangenheit mehr Linderung als Lösung, ein kurzes Durchatmen. Doch auch hierzu taugt der Dschungel mittlerweile nicht mehr: Bismuna wurde von der mittelamerikanischen Drogenmafia überrannt. Ein Hauch Berlin macht sich an der Karibikküste breit. Anstatt nun den Blick auf ein – möglichst unbewohntes -Südsee-Eiland zu richten, könnte schlicht konstatiert werden: humane Gesellschaft mit Maß, in der die Menschen weder am Leid des Anderen verdienen noch es mit dem gesamten Individuum ausrotten möchten, ist noch nirgendwo in der Welt, war wohl auch noch nie in der Welt. Sie steht noch aus, wird nicht durch Flucht gewonnen, sondern vor Ort, in tätiger Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, geleistet nicht nur von Sozialarbeitern (die nicht die Müllabfuhr unserer Wirtschaftsordnung sein sollten), sondern durch die gesamte Gesellschaft.

Solange darauf nicht hingewirkt wird, bleibt immer ein menschlicher Rest von Abgehängten und Funktionslosen, der sich in verdreckten Toiletten mit verunreinigtem Besteck Kapitalismus in Reinkultur spritzt: das Produkt, das seine zukünftige Nachfrage selber sicherstellt. Nächstes Geld nächster Schuss…nächstes Geld nächster Schuss…

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